»Explosive Moderne«: Auch Emotionen sind politisch
Hoffnung, Enttäuschung, Zorn, Furcht, Liebe, Eifersucht oder Scham et cetera sind Gefühle, die jeder individuell empfindet. Aber kaum jemand vergegenwärtigt sich im Alltag, dass diese ihm nicht allein »gehören« und auch ein Produkt der Gesellschaft sind, in der er sozialisiert wurde.
Es ist ein Verdienst von Eva Illouz, genau das transparent zu machen. Sie analysiert die Abhängigkeit der Emotionen von gesellschaftlichen Veränderungen und zeigt, wie »sich die Moderne […] in unserem Gefühlsleben entfaltet«. Ihr Buch ist hochpolitisch, weil es die regelrechte Explosion beleuchtet, die in den USA und der westlichen Welt in den letzten Jahren bei psychischen Problemen, bei Sucht, Selbstmord und Wut zu beobachten war.
Der Autorin geht es nicht um die Moderne als historische Dynamik seit der Renaissance und Aufklärung. Sie konzentriert sich vielmehr darauf, wie zuletzt Liberalismus und Kapitalismus über »ökonomische, kulturelle und politische Institutionen […] systematisch Gefühle hervorgerufen« und verformt haben. »Explosiv« ist die Moderne für Illouz, weil sie »eine Mischung aus Methoden der Menschenbeherrschung und der Naturzerstörung auf der einen Seite und echtem moralischem Fortschritt auf der anderen« hervorgebracht hat – in diesem Widerspruch sieht sie einen wesentlichen Grund heutiger Konflikte.
Uneingelöste Versprechen der Moderne
Die Perspektiven der Klinischen Psychologie oder gar therapeutischer Ratgeber liegen der Autorin fern. Ihr Buch entstand in einer mehr als 20-jährigen Auseinandersetzung mit der Moderne und ihrem soziokulturellen Druck auf Gefühle. Illouz greift dazu auf zahlreiche soziologische Studien und philosophische Ansätze zurück; zudem blickt sie auch auf literarische Werke durch die Brille der Soziologie: auf Shakespeare, Flaubert, Maupassant, Ernaux, Eribon und viele andere Autoren – bis in die Gegenwart, etwa zu Virginie Despentes‘ E-Mail-Roman »Liebes Arschloch« (2022). In Anspielung auf Sigmund Freud ist, so Illouz, das hier spürbare »Unbehagen in der Gefühlskultur« ein Ausdruck von »emotionalen Dystopien«, überbordendem Nationalismus und der Implosion von Intimität.
»Furcht« zum Beispiel beschreibt Illouz als Versagen des Liberalismus. In Gabriel Chevalliers Roman »Heldenangst« (1930) sei erstmals die Angst eines Menschen vor Schlachtfeldern des Krieges erzählt worden. Angst und Furcht basierten auf der politischen Instrumentalisierung durch Netzwerke von Eliten, auf Rechtsstaatlichkeit und moralischer Erziehung und seien gleichzeitig Ausfluss der liberalen Demokratie. Diese verspreche zwar seit der Aufklärung den Bürgern innen- und außenpolitisch Sicherheit im Austausch für die Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols. Doch je mehr Sicherheit der Staat zusage, desto weniger könne er sich »von der Figur des – realen oder eingebildeten – Feindes lösen, der das Verhältnis zwischen verschiedenen Gruppen in der Gesellschaft heimsucht.«
Das habe die Coronakrise gezeigt, als die Bürger mit dem Staat durch eine Art »Sanitärpakt« verbunden waren. Das Versprechen von »körperlicher Sicherheit« und Gesundheit bezahlten »Milliarden Menschen«, indem sie »ihre Wohnungen nicht mehr verlassen durften.« Illouz' Fazit: »Der Liberalismus wollte eigentlich nichts fürchten müssen als die Furcht selbst, doch ist ihm das im Großen und Ganzen misslungen.«
Auch die »Liebe«, die seit der Antike Thema der Kunst ist, unterliegt komplexen sozialen Entwicklungen. Illouz zieht eine Linie von deren Kultivierung in der höfischen Minne über Shakespeares »Romeo und Julia«, als die Kirche mit der säkularen Macht um die Autorität für den Schluss einer gültigen Ehe kämpfte, bis hin zum Vergleich zwischen Flauberts »Madame Bovary« (1856) und John Williams‘ »Stoner« (1956). In beiden Romanen gehe es um einen Konflikt zwischen Innenleben und moralischen Erwartungen, in dem die Protagonisten jeweils unterschiedliche Entscheidungen treffen – ohne ihn jedoch lösen zu können. »Beide Leben und Lieben müssen scheitern, weil sie nicht an die gesellschaftlichen Kräfte angepasst sind, die die Figuren nicht selbst beeinflusst haben und auch nicht überwinden können.«
Gegenwärtig befinde sich die Liebe in noch vertrackteren Situationen. Mit Bezug auf Andreas Reckwitz’ »Gesellschaft der Singularitäten« (2017) spricht Illouz von der »Verfeinerung von Individualität und Geschmack«, der »Vervielfältigung der Kriterien […] zu ›matchen‹«, etwa nach sozialer Mobilität, ökonomischen Interessen, Konsumpraktiken und kulturellen Habitusformen. Die Vielfalt der Kriterien verkompliziere im Übermaß die Partnerwahl.
Illouz schließt mit der Frage: »Was ist ein verfehltes Leben?« Die Antwort findet sie im Roman »Was vom Tage übrig blieb« (1989) des britisch-japanischen Nobelpreisträgers Kazuo Ishiguro: »Ein verfehltes Leben ist eines, in dem wir versäumen, unsere eigenen entscheidenden Gefühle zu erfassen« und »wir nie entdecken, was unser eigenes Verhältnis zur Welt ausmacht.«
Eva Illouz legt mit diesem Buch eine gut nachvollziehbare Kritik der »explosiven Moderne« vor. Es ist trotz aller Komplexität klar im Urteil, verständlich geschrieben und eine gelungene Einladung zur politischen Lektüre für alle an Fragen der Gegenwart Interessierten.
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