»Fischer, Perle, Walrosszahn«: Mensch und Meer als Schicksalsgenossen
Unser Planet ist zu mehr als zwei Dritteln von Wasser bedeckt. Auch wenn wir Menschen Landlebewesen sind, wusste unsere Art doch zu allen Zeiten die Meere zu nutzen, sei es als Quelle für Nahrung und Rohstoffe, sei es für Reise und Transport. Der an der Universität Heidelberg lehrende Mediävist Nikolas Jaspert präsentiert eine Gesamtschau dieser oft schwierigen Beziehung für die Zeit des Mittelalters.
Der Titel »Fischer, Perle, Walrosszahn« reißt bereits die verschiedenen Aspekte seines Unternehmens an. So solle Fischern endlich die Aufmerksamkeit der Forschung zuteilwerden, die sie als größte Berufsgruppe, die vom Meer lebte, auch verdiene. »Perle und Walrosszahn« verweisen auf den globalen Charakter des Themas, auf den internationalen Handel wie auch auf die Bedeutung der Meeresfauna. Tatsächlich unternimmt Jaspert immer wieder Ausflüge in die Lebenswissenschaften, etwa in dem umfangreichen Kapitel zum Walross. Der Historiker blickt hier weit über den Tellerrand seines Fachs, liefert Details zur Biologie dieser Tiere, deren Geschichte mit unserer verknüpft ist. Nachweislich lebten sie während des Mittelalters auch auf Grönland und Island. Waren ihr Fleisch, ihr Fett und vor allem das Elfenbein ihrer Zähne einst ein Grund für die Besiedlung dieser Inseln?
Mag die Walrossjagd ein einträgliches Geschäft für einige gewesen sein, war die Fischerei doch der Normalfall. Allerdings sind schriftliche Quellen dazu spärlich, Informationen müssen zusammengetragen und miteinander kombiniert werden. Das von Wilhelm dem Eroberer veranlasste »Domesday Book« etwa verzeichnete ab 1086 alle der englischen Krone zustehenden Einnahmen. Hochrechnungen zufolge lieferten die Untertanen demnach pro Jahr mehr als drei Millionen Heringe.
Kochbücher als historische Quellen
Auch Kochbücher geben Aufschluss über den Fischverzehr. Der andalusische Arzt Ibn al-Baiṭār aus Malaga etwa bewertete 40 Meereslebewesen, wobei er Fisch als schwer verdaulich einschätzte, weshalb man ihn mit Pfeffer, Ingwer oder Honig zubereiten und mit viel Wein einnehmen solle. Auch Hildegard von Bingen äußerte Bedenken gegen frischen Hering, da er stark blähe; man solle ihn daher braten, in Wein oder Essig kochen oder in der Sonne trocknen lassen. Die Gelehrten der Universität Montpellier rieten insbesondere vom Verzehr großer Fische ab, also etwa Stör, Wal, Delfin oder Hai. Deren Fleisch sei hart und schwer verdaulich. Insbesondere die Eliten, ob Christ oder Muslim, schätzten Meerestiere wenig, während die einfache Bevölkerung an den Küsten darauf nicht verzichten konnte.
In einer Zeit, in der alle Phänomene der Welt von Theologen und Philosophen ausgedeutet wurden, kamen dem Meer und seiner Fauna auch symbolische Rollen zu. Man denke an den Propheten Jona, der gegen eine Anweisung Gottes verstieß, weshalb das Schiff, auf dem er fuhr, in Seenot geriet. Der Prophet opferte sich selbst, um die Besatzung zu retten, wurde von einem Wal verschlungen und nach drei Tagen an Land gespien. Der Bauch des Wals verkörperte im mittelalterlichen Denken die Hölle, aus der Jona wiederauferstand. Ein anderes Beispiel für eine solche Interpretation war der »Segelfisch« (heute eher »Fächerfisch« genannt). Der im 2. bis 4. Jahrhundert entstandenen Schrift »Physiologus« nach schwimme er über weite Distanzen neben Schiffen her, um dann ermüdet in den Tiefen des Meeres zu versinken. Er gleiche Menschen, die nur kurzzeitig gute Werke vollbringen und daher in die Hölle kämen, während der Mensch, der dauerhaft Gottes Werke tue, dem Schiffe gleich das Meer besegele.
Neben der religiösen Ausdeutung interessierte die Menschen aber auch die Naturkunde des Meeres. Einer im Mittelalter beliebten fiktiven Biografie zufolge habe Alexander der Große sogar einen Blick unter die Meeresoberfläche geworfen. In Indien ließ er, so die Geschichte, sich in einem gläsernen Fass in die Tiefe ab, wo er Fische beobachtete. Sein Fazit: Die Größeren fressen die Kleineren. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Aus dem islamischen Kulturkreis stammt eine heutzutage wenig überzeugende Information: Ziegen und Fische sollten ein freundschaftliches Verhältnis miteinander pflegen. Deshalb würden sich Fischer mancherorts Ziegenhäute überstreifen und über den Strand kriechen. Eilten dann die Fische zu ihren vermeintlichen Freunden, seien sie leicht zu fangen.
Das unvermeidliche Ausfahren und Fischen mit dem Netz erforderte Investitionen, die das Budget einfacher Leute oft überforderte. So kosteten die kleinsten Fischerboote in der Hafenstadt Valencia laut Jaspert so viel, wie ein Arbeiter in zweieinhalb Monaten verdiente. Dazu kamen Aufwendungen für Treibnetze, Ruder, Seile und Angelhaken. Man konnte sich aber genossenschaftlich organisieren, Kosten und Beute teilen; oder ein Boot nur von einem Vermögenderen chartern oder sich gleich von diesem anheuern lassen.
Mehr als 80 Seiten Anmerkungen und Literaturangaben – der Autor hat keine Mühen gescheut, seinem Thema umfassend gerecht zu werden. Natürlich widmet er sich auch dem Warenverkehr zur See, der in vielen Städten eine mit dem Adel konkurrierende bürgerliche Elite hervorbrachte. Die gründete überall Niederlassungen, entwickelte das Bankwesen und stand über Briefnetzwerke in einem regen Austausch untereinander.
Schade nur, dass Jaspert meist auf Distanz zu den Quellen bleibt, eher Überblicke vermittelt und Ergebnisse der Forschung referiert, nur selten aber die Überlieferungen selbst sprechen lässt. Daher bleibt auch sein Publikum immer ein wenig auf Distanz. Das ist sicher auch der Themenfülle geschuldet, läuft aber dem tieferen Anliegen Jasperts eigentlich entgegen, dem mehr emotionale Beteiligung guttun würde: Wir leben in einer Zeit, in der die Ausbeutung der Meere immer weiter vorangetrieben wird, obwohl deren negativen Folgen für die Umwelt immer deutlicher zutage treten. So darf es nicht weitergehen, wollen wir überleben – so Jasperts eindeutige Botschaft.
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