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Lesebefehl vom Fußballmuffel

Auffallend pünktlich zur Fußball-WM verspricht Klaus Zeyringer mit seiner Kulturgeschichte des Fußballs die sozialwissenschaftliche Antwort auf eine akute Frage: Warum immer dieser Lärm um dieses alberne Spiel? Selbst der Verlag scheint unsicher, ob eine fußballabstinente Zielgruppe diese Antwort wirklich gerade jetzt haben möchte. Er lässt Erfolgsautor Daniel Kehlmann im Klappentext als jemanden auflaufen, der "nie etwas über Fußball erfahren wollte" und nun resümiert "Im Ernst: Lesen Sie das!"

Folgt man seinem Rat, so wartet auf Fußballmuffel wie -experten im Buch des österreichischen Germanisten und Literaturkritikers ein kenntnisreicher Rundumschlag. Flotte sieben Kapitel liefern anekdotische Antworten, in denen die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Fußballsports aus soziologischer, politischer, psychologischer sowie historischer Perspektive beleuchtet werden. Zu den Stärken des Buchs gehören dabei – der Autor ist Österreicher! – jene Passagen, in denen zwischen akademischen Betrachtungen der Schmäh aufblitzt und altbekannte Fußballanekdoten gegen den Strich gebürstet werden.

16 Autos in Sao Paulo

So auch beim kritischen Hinterfragen von "Urmythen", die in Fankreisen kursieren. Etwa die vom "dribbelstarken Brasilianer", der – wie die offiziell glattgebügelte Fifa-Geschichtsschreibung gern suggeriert – seine sprichwörtlich märchenhafte Technik einstmals beim Umkurven hupender Autos lernte. Zeyringer hilft an solchen Stellen mit Fakten aus. So stieg während der Jugend Arthur Friedenreichs, des ersten dunkelhäutigen Superstars Brasiliens im frühen 20. Jahrhundert, die Zahl zugelassener Automobile in seiner Heimatstadt Sao Paulo von 5 auf 16. Womöglich reichte die von ihnen erzeugte Verkehrsdichte dann doch nicht aus, um zwischen den Stoßstangen überragend am Ball sein zu müssen. Könnte es vielmehr sein, dass unterpriviligierte, dunkelhäutige Fußballer überragend gut dribbeln mussten, um sich inmitten weißer, foulspielender und vom Schiedsrichter bevorzugter Verteidiger durchzusetzen? Diese gesellschaftspolitische Alternativerklärung greift Zeyringer ausführlich im Themenkomplex Rassimus und Fußball auf.

Zeyringers gründliche Herangehensweise entlarvt so manches Fußball-Ammenmärchen. Darunter auch das vom Arbeitersport, der sich gegen den Widerstand der Eliten durchsetzen musste. Tatsächlich kickten zuerst nur Angehörige akademisch-elitärer Zirkel der Universitäts-Colleges, während Arbeiter schlicht zu beschäftigt waren, um dem Spiel zu frönen. Auf der anderen Seite gingen aus der Arbeiterschicht viel früher Profis hervor, als man das heute im Rückblick wahrnimmt – besonders in Deutschland, dessen Fußballverband lange Zeit einem merkwürdig verzerrten Amateurgedanken anhing.

Vom subjektiven Kollektivgedächtnis

Ähnlich präzise fallen die Kapitel über die politische Vereinnahmung des Sports von einst bis heute aus, über die Entwicklung des Frauenfußballs, über regional unterschiedlich geprägte Spielweisen oder national abweichende Kollektiverinnerungen. Gerade aus hiesiger Sicht spannend liest sich die Aufarbeitung der vielen Fußballklassiker zwischen Deutschland und Österreich, die der Grazer Autor aus naturgemäß eigener Perspektive referiert. Dazu hier nur kurz für Experten: Der Begriff "Cordoba" fällt im Buch überraschend spät, der Aufarbeitung von "Gijon" wird dankenswerterweise ein größerer Rahmen gegeben. Auch wer mit beiden Orten nichts verbinden kann, wird die entsprechenden Passagen mit Gewinn lesen.

Überhaupt gelingt es dem Buch recht gut, Fußballfans und -laien gleichermaßen zu erreichen. Die am Sport eher Uninteressierten dürften sich angesichts geraunter Namen, Spiele und Orte aus dem globalen Fußballkollektivgedächtnis zwar gelegentlich langweilen. Doch sie können die entsprechenden Seiten ja einfach überblättern. Engagierte Fans könnten dagegen finden, dass etwa das Thema Fankultur zu kurz kommt, Fußballpoeten wie Eduardo Galeano besser im Original gelesen werden sollten oder die Passage über Fifa-Korruptionsexperten wie Andrew Jennings und seine Mitstreiter etwas zu knapp ausfällt. Das Literaturverzeichnis macht die Suche nach mehr allerdings leicht.

Zeyringer möchte in seinem Werk viel – vielleicht zu viel. Sicher aber gibt es so manchen Leser, der am Ende der gut 400 Seiten gerne noch weiter lesen würde, statt sich das nächste Vorrundenspiel anzuschauen.

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