»Gamma … visions«: Unsere Zukunft in Blauschwarz
Als Schüler stand Jens Harder Anfang der 1980er Jahre im Kunstunterricht in der DDR vor der Aufgabe, die Stadt der Zukunft malen, konkret: eine Metropole im Jahr 2000. Also entwarf er, wie die anderen in seiner Klasse auch, eine schöne Utopie und zeichnete eine »hoffnungsvoll und fröhlich wirkende Wolkenkratzersilhouette, sich stolz und farbenfroh in blauen Himmel reckend«. Eine Dystopie sei damals nicht denkbar gewesen, schreibt er.
Rund 40 Jahre später entwickelt er als Autor und Comiczeichner auf über 1300 Seiten eine »Bildergeschichte der Menschheit« – vom Beginn des Universums bis weit in die Zukunft hinein. Die Graphic Novel »Gamma … visions« bildet mit mehr als 200 Seiten den Abschluss der vierteiligen Reihe, in dem es nicht so farbenfroh und auch nicht unbedingt so fröhlich zugeht wie in seiner damaligen Schularbeit. Sie wirft auch kein Schlaglicht auf ein einzelnes Jahr: »Gamma … visions« startet im Jahr 2022 und reicht bis zum Ende des uns bekannten Universums.
Jens Harder ist zweifacher Gewinner des Max-und-Moritz-Preises für den besten deutschsprachigen Comic. Mit seiner Kunst macht er das Unverständliche sichtbar, denkt über das wissenschaftlich Belegte hinaus in mögliche Wirklichkeiten. Dieser vierte Band notiert in einem irren Wirbel von Einfällen, was so alles in der Zukunft passieren könnte. In Kapiteln geordnet, folgen auf das Computerzeitalter das Zeitalter der solaren Kolonisierung, das des Pan-Ökozids, das der ultimativen kybernetischen Ablösung des galaktischen Gewebes und schließlich das finale Ende von allem.
Alle Zeichnungen sind in Blauschwarz gehalten. Nicht immer ist genau zu erkennen, was Harder da gezeichnet hat. Er hat seine Bilder angereichert mit verfremdeten Ausschnitten aus Filmen wie »Matrix«, »Bladerunner« oder »The Day After Tomorrow« sowie mit Werken von Picasso oder solchen des Sci-Fi-Zeichners Moebius (bürgerlich »Jean Giraud«). Immer wieder möchte man erneut in dem Band blättern, darin versinken, Neues entdecken – findet dabei aber auch vieles verstörend. Auch die Textnachrichten aus der Zukunft sind nicht immer einfach zu verstehen. Die Infos stammten, so der Autor, von nicht menschlichen Quellen aus der Zukunft – was denn etwa so klingt: »2065 Dr KilimandjaR:o blei8t dau_erhaft ..eisfrei« oder »14.400MA S0nne ist Schwarzer Zwreg«.
Doch sollte man sich davon nicht abschrecken lassen! Das Buch quillt über vor Visionen, Ideen und Technologien. Jens Harder ergründet, wie die Zukunft der Menschen aussehen könnte, und bleibt dabei möglichst nah an der Wissenschaft. Er vermeidet auch einige der sonst üblichen Weltuntergangsszenarien. So halten die Menschen die Klimaerwärmung in seiner Darstellung in Schach – indem sie auf erneuerbare Energien setzen und Fusionskraftwerke entwickeln, die im Jahr 2081 in Betrieb gehen. Kritischer sieht er die Entwicklung der künstlichen Intelligenz. Denn die könnten die Menschen nicht unter Kontrolle halten.
Kriege gibt es auch zuhauf – auch zwischen Robotern. Es geht um die Eroberung des Weltraums, die Suche nach außerirdischem Leben. Außerdem gibt es einen künstlichen Uterus, Baumreligionen oder symbiontische Boliden (im All kreisende finale Seinsformen des Maschinenlebens). Manches klingt kompliziert und krude, aber es gibt auch immer wieder kleine, feine Leseinseln. Beispielsweise, wenn das Mammut geklont wird, das Wollnashorn erst ausstirbt und dann wieder neu geboren wird oder das saudi-arabische Königreich nach dem Verbot fossiler Energien im Jahr 2072 zusammenbricht. Dann klingt die Erzählung auch wieder erschreckend real, wenn etwa US-Ölkonzerne Windkraftgegner in den USA mit Spenden und durch das Engagement teurer Anwaltskanzleien unterstützen.
Versionen des Endes
Der Band ist zugleich Sachbuch und Graphic Novel. Auch wenn einige seiner unzähligen Bilder und Visionen einem LSD-Trip entsprungen zu sein scheinen: Meist bleibt das wissenschaftliche Fundament erkennbar – auch bei Harders Prognosen zur Zukunft von Zivilisationen oder zum Ende der Welt. Er vermischt Zitate aus der Sciencefiction der letzten Jahrzehnte mit Aussagen von Unternehmen zu den jeweiligen Themen.
Auch wenn es um das Ende des Universums geht, bleibt er nah an aktuellen Vermutungen aus der Astrophysik. Die drei meistdiskutierten Szenarien dazu erklärt er verständlich: »Big Rip« (»Endknall«), »Big Freeze« (»Große Abkühlung« durch die fortdauernde Expansion des Universums) und »Big Crunch« (»Der große Zusammenbruch«). Jens Harder entscheidet sich für den »Big Crunch«: Aufgrund der Gravitationskraft kollabiert das Universum, und ein umgekehrter Urknall, eben der »Big Crunch«, bringt alles zum Verschwinden.
Vielleicht wäre das dann auch die Grundlage für einen neuen Urknall, durch den alles wieder von vorn beginnt. Dann wäre unsere heutige Welt Teil eines Zyklus – und eben nicht einmalig. Letzteres wäre, so sieht es jedenfalls der Autor, auch »unerträglich sinnlos«. Insofern endet auch dieses Werk des Autors mit einer Hoffnung – die allerdings ganz anders aussieht als die des Schülers Jens Harder.
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