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Buchkritik zu »Gefühle lesen«

Titel, Inhaltsverzeichnis und Klappentext verheißen eine spannende Lektüre. Paul Ekman, einer der bekanntesten amerikanischen Psychologen und Experte für nonverbale Kommunikation, scheint den fein gewebten Teppich der Emotionen in seinem Buch systematisch aufrollen zu wollen. Seine Ziele sind ehrgeizig: Wir sollen uns selbst und andere besser verstehen – auch subtile emotionale Signale unserer Gesprächspartner, die nur für Bruchteile von Sekunden über deren Gesichter huschen oder gar von ihnen unterdrückt werden. Wir sollen lernen, in bestimmten Situationen angemessener zu reagieren. Ekman will uns Wege aufzeigen, Emotionen besser zu nutzen. Unsere Gefühle seien schließlich kein Blinddarm, kein rudimentärer Apparat aus längst vergangenen Zeiten, den wir entfernen sollten, sondern der Mittelpunkt unseres Lebens. Viele, zum Teil lebenswichtige Entscheidungen werden aus dem Bauch heraus getroffen, nicht mit dem Kopf.

Bevor es daran geht, die Gefühlswelt des Gegenübers zu durchleuchten, konfrontiert uns der Autor mit unserer eigenen. Was löst unsere Emotionen aus, und warum reagieren wir bei manchen Gelegenheiten über? Importieren wir vielleicht, wie Helen, die Heldin eines der zahlreichen Beispieldramen dieses Buchs, ein extrem emotionsbeladenes Drehbuch aus einem anderen Abschnitt unseres Lebens in die Gegenwart? Ist es möglich, diese Auslöser bewusst zu kontrollieren?

Paul Ekman gibt sich größte Mühe, uns für emotionale Botschaften zu sensibilisieren. Dabei reduziert er Trauer, Zorn, Überraschung, Angst, Ekel, Verachtung und Freude wissenschaftlich nüchtern zu bloßen Muskelbewegungen – leider erst im hinteren Teil des Buchs. Denn eines wird im Lauf der Lektüre zweifellos klar: Die Gefühlswelt ist komplex und durch sie einen roten Faden zu legen sehr schwer. Zwischen ineinander verschachtelten Beispielen und Querverweisen auf spätere Kapitel verlangt Ekman der Konzentration des Lesers einiges ab. Kein Wunder, fasst er doch in seinem Buch 40 Jahre Forschungsarbeit zusammen.

Zum Glück spart er nicht an Fotomaterial und praktischen Übungen, die das Gesagte illustrieren. Was die Analyse von Gesichtsausdrücken angeht, hat sich kein anderer bisher derart ins Detail begeben. Endlich erfahren wir, warum das Lächeln mancher Menschen auf uns irgendwie aufgesetzt wirkt: Sie verziehen nur den Mund. Da sich die entscheidenden Muskeln im Bereich der Augen nur schwer willkürlich beeinflussen lassen, bleiben diese unbewegt, wenn die freundliche Geste nicht von Herzen kommt.

In solchen Feinheiten liegt das Besondere des Buchs. Schade, dass sie oftmals in der Fülle anderer Informationen untergehen, von denen viele weder neu noch sonderlich erstaunlich sind. "Wir entscheiden genauso wenig bewusst da-rüber, wie wir in einem emotionalen Zustand aussehen und klingen, wie wir darüber entscheiden, wann wir emotional reagieren. Aber wir können lernen, emotionales Verhalten, das wir im Nachhinein bereuen würden, zu dämpfen." Wer hätte das gedacht.

Umso verblüffender wirkt der Test am Ende (Bilder). Wer versucht, die mimischen Gesten zu entschlüsseln, die Ekmans Tochter Eve in 14 Fotos übermittelt, wird seine Grenzen schnell erkennen. Man fühlt sich verpflichtet, das Buch noch einmal von vorne anzufangen. Vielleicht wird ja im zweiten Durchgang so manches klarer?

Zu hoffen bleibt allerdings, dass es dem Leser dabei nicht ergeht wie der Hauptfigur in einer Gesellschaftssatire von Martin Suter. "Geri ist meist so damit beschäftigt, seine Mitmenschen zu beobachten, dass er sich manchmal wochenlang ganz aus den Augen verliert." Obwohl – so packend ist die Lektüre dann doch wieder nicht.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 4/2005

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