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Buchkritik zu »Geheimnisvolles Universum «

Zum vierzigsten Geburtstag der Eso erschien 2002 ein Jubiläumsbuch, "Geheimnisvolles Universum – Europas Astronomen entschleiern das Weltall", verfasst vom Hamburger Wissenschaftsjournalisten Dirk H. Lorenzen. Die Eso machte in den vergangenen 15 Jahren eine bemerkenswerte Wandlung durch, der Schwerpunkt der Forschung liegt nicht mehr auf dem Berg La Silla, sondern auf dem Cerro Paranal, wo die vier 8.2-m-Teleskope des Very Large Telescope in Betrieb sind. In diesem, für den Betrachter und den Leser gleichermaßen ansprechenden Werk erschließt sich die Eso durch die Augen eines Paranal-Besuchers.

Es beginnt mit einem Besuch auf dem Observatorium Paranal, ist mit Kommentaren von Astronomen und Technikern durchsetzt, und bietet dem Leser einen gelungenen Eindruck der Arbeiten an einer Großsternwarte. Die zwei darauf folgenden, mehr astronomisch ausgerichteten Abschnitte behandeln zum einen die Stern- und Planetenentstehung, den Sternentod und die Staubbildung, zum anderen den Anfang, Aufbau und das Schicksal des Universums. Auch hier wird der Text durch ausgewählte Stellungnahmen von Forschern aufgelockert. Zwei Kapitel berichten ferner über auf Paranal eingesetzte moderne Beobachtungstechniken, Interferometrie und adaptive Optik.

Das letzte Drittel des Buches beschäftigt sich fast ausschließlich mit der "Vorgeschichte" der Eso, und hier setzt beim Rezensenten ein heftiges Stirnrunzeln ein. Seitenweise werden Jürgen Stocks Berichte über in Chile durchgeführte Sichtbeobachtungen aus dem Jahr 1960 zitiert, die der Suche nach einem geeigneten Aufstellungsort für eine amerikanische Sternwarte dienten, aus der schließlich das Cerro Tololo Inter-American Observatory wurde. Auch für die Eso hatten diese Aktivitäten eine große Relevanz und verdienen zweifellos eine Würdigung. Aber auch Stocks spätere Aktivitäten in Chile und Venezuela nehmen im Buch breiten Raum ein, wohingegen die Wahl eines Standorts in Chile recht kurz abgehandelt wird.

Einige Seiten über zukünftige Großprojekte der Eso (Alma, Owl) beschließen das Buch. Esos "Weg nach Chile" erscheint wenig einsichtig: worin lagen die Gründe für die frühe Fokussierung auf Südafrika? Wie kam es zu der überraschenden Entscheidung für Chile? Diese Fragen bleiben unbeantwortet, wohingegen Namen und Kaufpreise von Stocks Pferden und Maultieren mitgeteilt werden. Der Autor versucht, die losen Fäden seiner Story mit der Bemerkung "das VLT ist schließlich auch eine Konsequenz von Jürgen Stocks Aktivitäten in Chile" zu verknüpfen. Sicher hat Stock mit seinen Aktivitäten eine Art "astronomischen Goldrausch" in Chile ausgelöst. Aber Stock wurde von Gerard Kuiper nach Chile geschickt, dessen Enthusiasmus durch einen Besuch des Direktors der Astronomieabteilung der Universität von Chile, Federico Rutland, entfacht wurde. Diese Institution wiederum ging aus der chilenischen Nationalsternwarte hervor, deren Wurzeln in einer astronomischen Expedition des US-Astronomen James Gilliss Mitte des 19. Jahrhunderts liegen, und Gilliss selbst wurde bei seinen Untersuchungen vom Marburger Mathematikprofessor Gerling inspiriert. Überdies waren auch andere astronomische Expeditionen im 19. und frühen 20. Jahrhundert in Chile tätig.

Wo ist also die eigentliche Ursache für das Aufblühen der astronomischen Forschung in Chile zu suchen? Allein Stock die Lorbeeren zu überreichen, bedeutet, die Beiträge vieler Vorgänger, und auch vieler altgedienter Eso-Mitarbeiter, die ihr Leben der Realisierung dieses Projekts gewidmet haben, zu verschweigen. Die Vorgeschichte und die Entwicklung der Eso, das zeigen die im Buch nur kurz skizzierten Ereignisse, gleichen mehr einem "random walk" als einem geradlinigen Prozess: mit genügend Zeit und Geld hat sich die Eso zu einer äußerst erfolgreichen Forschungsinstitution entwickelt.

Das Buch erzählt also nicht die ganze Geschichte, und der Rezensent gesteht gerne ein, dass so etwas ohnehin unmöglich ist. Stattdessen bietet es lesenswerte Geschichten. Allerdings prangt auf dem Umschlag neben dem Verlagsnamen das Logo der Eso, und der Leser mag glauben, eine (halb)offizielle Eso-Veröffentlichung in Händen zu halten, und wundert sich, warum statt der Geschichte der Eso (die es wirklich verdient hätte, in weiteren Kreisen bekannt zu werden) so viel Raum für die Beschreibung von weit hergeholten und unwichtigen Dingen verschwendet wird. Falls das Buch jedoch einige Pioniere der Eso dazu ermutigen würde, sozusagen als Trotzreaktion ihre Erinnerungen niederzuschreiben – Erinnerungen, die wohl kaum weniger ereignisreich sind als die von Jürgen Stock – dann hätte es schließlich doch einen guten Zweck erfüllt.

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  • Quellen
Sterne und Weltraum 7/2003

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