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Was uns einzigartig macht

David Gelernter ist ein Multitalent. Bildender Künstler, Essayist, Judaismusexperte, IT-Unternehmer und, last but not least, Computerwissenschaftler. Als solcher lehrt er an der renommierten Yale University in New Haven (USA). Nun versucht er sich sogar noch als Bewusstseinsphilosoph. In seinem neuen Buch stellt Gelernter seine Sicht auf den menschlichen Geist vor, die weniger auf Laborforschung als vielmehr auf sensibler Selbstbeobachtung sowie auf dem reichen Fundus der Weltliteratur beruht. Das Resultat ist zwar zutiefst unwissenschaftlich, aber dennoch lesenswert.

Ausgangspunkt ist die von anderen Denkern oft vernachlässigte Tatsache, dass unser mentales Leben von einer permanent auf- und absteigenden Dynamik beherrscht wird. Wir durchlaufen jeden Tag vielerlei Zustände: von höchster Konzentration über Tagträume bis hin zum unkontrollierten, unbewussten Sturm der Gefühle und Erinnerungen. Gelernter unterteilt dieses Spektrum, wie er es nennt, in drei Bereiche – einen oberen, mittleren und unteren – und fächert detailliert auf, welche Prinzipien und Prozesse auf jeder Ebene dominieren. Oben regiert die abstrakte Logik, unten das Geschichtenerzählen; oben wenden wir uns dem Außen zu, unten dem Innen; oben herrscht willentliche Kontrolle, unten löst sich das Ich auf. Während abstrahierendes Denken vor allem Prägnanz erzeugt, fördert abschweifende Aufmerksamkeit kreative Einfälle, und in den emotionalen Niederungen des Geistes findet unser Leben Ziel und Struktur.

Bewusstsein als Rechenvorgang

Der Informatiker entkräftet mit seiner detailreichen Analyse die populäre Computertheorie des Geistes, wonach Bewusstsein letztlich nichts anderes sei als ein Rechenprozess. Gelernter hält die subjektive Erlebnisqualität für einzigartig und rätselhaft, jede künstliche Simulation davon sei eben nur das: eine Simulation, ein So-tun-als-ob.

Gelernters Kernargumente fußen, wie er im Buch schreibt, "auf dem festen Fundament des gesunden Menschenverstands". Man staunt über die Selbstsicherheit, mit er ohne ausgefeilte Methodik Auskunft gibt über die dunklen Abgründe des Unbewussten. Stellenweise verstrickt er sich allerdings in Widersprüche. Etwa da, wo er das Unbewusste mit dem Gedächtnis gleichsetzt, um kurz darauf zu behaupten, bewusste Gedanken könnten unter anderem in Form von Erinnerungen auftreten.

Erstaunlicherweise kommt der Pionier des "Parallel Computing", der mehrgleisigen digitalen Informationsverarbeitung, an keiner Stelle seines Buchs näher darauf zu sprechen, dass es vielleicht nicht nur ein Spektrum des Geistigen geben könnte, sondern viele, gleichzeitig operierende und miteinander verwobene Stränge. Wir sind immer bewusst und unbewusst zugleich. Gelernters fehlender Sinn für die Gleichzeitigkeit all der so sauber sezierten Elemente des Geistes ist wohl das größte Manko seiner Taxonomie.

Die Stärke des Buchs: Es macht deutlich, wie facettenreich und wandelbar jene Mechanismen sind, die unser Bild der Welt formen. In Anlehnung an Freud, dessen Tiefenpsychologie er gegenüber der Laborforschung verteidigt, zitiert Gelernter zum Beleg aus vielen Werken der Weltliteratur: Shakespeare, Rilke, Nabokov, Philip Roth. Das an Vergleichen und Metaphern reiche Buch liest sich spannend, bleibt aber idiosynkratisch, seine Theorie subjektiv. Dennoch zeichnet es ein beeindruckendes und bedenkenswertes Bild der Terra incognita des menschlichen Geistes.

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