Religion als Daseinsbewältigung
Seit Anbeginn der Geschichte gibt es Religionen. Daher kann man die Frage stellen, ob sie vielleicht eine biologische Funktion erfüllen und damit evolutionsbiologisch erklärbar sind. Dieses Forschungsfeld ist in den USA bereits fest etabliert, in Deutschland noch nicht. Den drei Autoren des vorliegenden Buchs – Religionswissenschaftler und Biologen – gebührt das Verdienst, hier als Pioniere zu wirken. Sie verfolgen einen interdisziplinären Ansatz, der Religionswissenschaft, Theologie, Biologie, Psychologie, Paläontologie, Archäologie und Kognitionswissenschaft miteinander verzahnt.
Ihre Kernthese lautet: Religionen haben eine klar identifizierbare biologisch-soziale Funktion, daher sind sie auch verhaltensbiologisch von ihren frühesten Anfängen bis hin zu den heute existierenden Weltreligionen erklärbar. Freilich machen die Autoren dabei Anleihen bei den Einsichten des Philosophen Ernst Cassirer (1874-1945) und des Kunsthistorikers Aby Warburg (1866-1929) zur Natur und Funktion von Symbolen, um die zentrale biologische Bedeutung von Religion zu eruieren. Religionen, so die These von Wunn, Urban und Klein, helfen bei der Daseinsbewältigung durch symbolische Darstellung spezifischer Ängste. Sie sind demnach Angst reduzierende Symbolsysteme.
Bestatten, um Land zu kennzeichnen
Die Frage nach dem biologischen Ursprung von Religion zu stellen heißt daher, nach den Ursprüngen der Symbolfähigkeit des Menschen zu fragen. Die Verfasser datieren den Beginn dieser Fähigkeit in die mittlere Altsteinzeit (ca. 300 000 bis 40 000 Jahre vor heute). Die Religionen in ihren frühesten Formen hätten vor allem bei der Sicherung des Territoriums, beim Imponiergehabe (im Zusammenhang mit der Fortpflanzung), beim zweckfreien Spiel, aber auch bei der Abwehr von Gegnern und Gefahren eine zentrale Rolle gespielt. So interpretieren Wunn, Urban und Klein die Praxis der Bestattung – auch die der Neandertaler – in einem verhaltensbiologischen Sinn als Markieren des Territoriums. Auf dieser Grundlage verfolgen sie die Entwicklung der Bestattungskulte durch die Jahrzehntausende bis hin zur Entstehung hochentwickelter Jenseitsvorstellungen mit einer ausgefeilten Praxis des "Ich gebe, damit du gibst" (do ut des). In diesem Teil liegt zweifellos die Stärke und Originalität des Buches.
Religion hat nach Ansicht der Verfasser auch eine apotropäische (Geister austreibende, Unheil abwendende) Funktion. Höhlenmalereien wie Phallus- und Handdarstellungen, weibliche Figurinen mit großen Brüsten und auffälliger Scham lassen sich unter anderem so deuten. Wiederum zeichnen die Autoren in diesem Zusammenhang die Entwicklung der Muttergottheiten und der mit ihnen zusammenhängenden Jenseitsvorstellungen aus archaischen Verhaltensweisen nach.
Ausweitung des Evolutionsbegriffs
Nach Abschnitten über den wissenschaftstheoretischen Status der Evolutionstheorie schwenken die Verfasser von der biologischen Evolution zur kulturellen über. Sie stellen das kulturelle Gedächtnis und die Zielgerichtetheit kultureller Evolution als zentrale Unterschiede zur stammesgeschichtlichen Entwicklung der Lebewesen heraus. Das Sesshaftwerden spielte ihrer Ansicht nach eine wichtige katalytische Rolle in der kulturellen Evolution. Es habe die Umwandlung archaischer apotropäischer Symbolhandlungen in komplizierte Riten und – in deren Gefolge – identitätsstiftende Mythen vorangetrieben. Eine neue Stufe dabei sei mit dem Heldenmythos erreicht worden.
Das Buch endet mit einer Beschreibung der Religionen Maltas, Griechenlands (Mykene, Knossos) und Israels. Spätestens wenn die Autoren die religionsgeschichtliche Sonderstellung Israels betrachten, ohne deren Kritik an menschlicher Religion mit ihren Mythen, Riten und Opfern zu erwähnen, fragt sich, ob hier die Grenze des naturalistisch evolutionsbiologischen Ansatzes zur Religionsentstehung erreicht ist. Die Herleitung jedenfalls des israelitischen Monotheismus aus dem Territorialanspruch der frühen israelitischen Könige scheint gewagt, zumal der Monotheismus sich im babylonischen Exil erst durchsetzte, als das Territorium bereits verloren war.
"Götter, Gene, Genesis" schlägt wichtige und wertvolle Schneisen, um die frühen Formen menschlicher Religiosität entwicklungsbiologisch zu erklären. Zukünftiger Forschung bleibt es vorbehalten, zu testen, ob weitere wichtige Religionsformen allein aus entwicklungsbiologischer Sicht erklärbar sind, etwa die Sonnengottheiten (Marduk, Aton und andere) oder höhere Aspekte von Religion wie Ethik und Mystik – und nicht zuletzt die Sonderstellung der Religion Israels.
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