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Medizin als Ersatzreligion

Zu oft wecken Mediziner maßlos übertriebene Hoffnungen, kritisiert der Ethiker Urban Wiesing.

Die medizinische Forschung weckt große Hoffnungen und macht große Versprechungen: Personalisierte Medizin, verbunden mit Big Data und Gentechnik, soll in naher Zukunft individuell zugeschnittene, wirksame Behandlungen beinah ohne Nebenwirkungen ermöglichen. Moderne Technologie und künstliche Intelligenz sollen Diagnostik und Therapie vereinen. Der Krebs soll in Kürze besiegt sein, und Menschen sollen womöglich schon in wenigen Jahrzehnten Unsterblichkeit erreicht haben. Wissenschaftlich begründet sind solche überschwänglichen Zukunftsaussichten selten.

Der Medizinethiker Urban Wiesing setzt sich in »Heilswissenschaft« mit Inhalten, Hintergründen und Schwächen von Prognosen auseinander und hinterfragt, warum unsere Gesellschaft trotz zahlreicher nicht eingelöster Versprechungen weiterhin begeistert auf medizinische Sensationsmeldungen reagiert. Dabei zieht er Parallelen zu religiösen Erlösungsvorstellungen und kritisiert mit ironischer Übertreibung die Verheißungen der modernen Medizin.

Narrative des Fortschritts

Wiesing ist Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Tübingen und war von 2004 bis 2013 Vorsitzender der Zentralen Ethik-Kommission bei der Bundesärztekammer. Obwohl er in seinem Buch die Versprechungen der medizinischen Forschung und die damit verbundene Fortschrittseuphorie scharf kritisiert, ist das Werk an keiner Stelle wissenschafts- oder fortschrittsfeindlich. Vielmehr ruft der Autor dazu auf, sich auf wissenschaftliche Grundtugenden wie Nüchternheit, Skepsis und Kritik zu besinnen.

Anhand zahlreicher populärwissenschaftlicher Quellen beleuchtet Wiesing typische Narrative des tatsächlichen oder vermeintlichen wissenschaftlichen Fortschritts. Seiner Beobachtung nach wird in vielen Erzählungen suggeriert, dass alles Neue automatisch besser und erstrebenswert sei. Von einem wahren Fortschritt kann aber laut Wiesing nur die Rede sein, wenn das neue Wissen oder die neue Technik tatsächlich im Stande sind, Patienten besser zu helfen als vorher. Vom Wissen zum Handeln ist es jedoch ein langer Weg. Von der Entschlüsselung des menschlichen Erbguts etwa erhofften sich Forscher noch Anfang des Jahrtausends bahnbrechende neue Möglichkeiten in Diagnostik und Therapie. Inzwischen ist klar, dass diese Hoffnungen maßlos übertrieben waren.

Ausführlich beleuchtet Wiesing allgemeine Eigenschaften und Probleme von Prognosen: Da sie sich auf die Zukunft beziehen, lassen sie sich nur sehr eingeschränkt überprüfen. Oft sind sie von Interessen verzerrt und sagen vor allem etwas über Wünsche und Probleme der Gegenwart aus. Da sie konkreten Einfluss auf die Gegenwart nehmen, sind sie wirkmächtig und gefährlich. So versprachen Neurowissenschaftler im Jahr 2004, neue Erkenntnisse über das menschliche Gehirn sowie eine neue Generation von Psychopharmaka würden die Therapie psychischer Störungen »revolutionieren«. Konventionelle Psychotherapien seien bald nicht mehr nötig. Obwohl diese Erkenntnisse keineswegs zu revolutionären Therapien führten, hat die Prognose beeinflusst, welche Forschungsprojekte eine üppige finanzielle Ausstattung erfuhren und welche eher nicht. Warum sollte man noch konventionelle Psychotherapien weiterentwickeln, wenn diese bald ohnehin überflüssig wären?

Ein weiteres gängiges Narrativ lautet, die rosige Zukunft komme umso schneller, je mehr sich alle anstrengen. Diese Erzählung schützt zum einen die Prognostizierenden vor Kritik: Trifft eine Prognose nicht ein, liegt das nicht daran, dass sie unseriös und realitätsfern war, sondern daran, dass sich nicht alle genug angestrengt haben. Zum anderen führt der Glaube an künftiges Heil, das man durch Willen und Anstrengung herbeiführen könne, zu Problemen in der Gegenwart – es wird nahezu unmoralisch, nicht jederzeit daran zu arbeiten. Tatsächlich gönnen sich viele Entwickler im Silicon Valley kaum Pausen oder Schlaf; zu wichtig ist ihre Mission. Gleichzeitig treten sie motiviert und lässig auf, kleiden sich jugendlich und achten auf einen sportlichen Körper. In den Medienberichten über Helden des Silicon Valley sieht Wiesing Parallelen zu religiösen Beschreibungen von Erlöserfiguren. Die Porträtierten arbeiten nicht nur an der Zukunft, sie symbolisieren diese auch persönlich.

Gerade die Elemente, die eigentlich eher religiös als wissenschaftlich sind, machen uns laut Wiesing so empfänglich für immer neue Zukunftsversprechungen. In der säkularisierten Welt soll die Wissenschaft Erlösung verheißen – auch wenn das weit außerhalb ihrer Kompetenz liegt. Für Mediziner und Journalisten, die selbst ab und an dazu neigen, neue Projekte, Erkenntnisse und Technologien allzu euphorisch darzustellen, kann das Buch ein wichtiges Korrektiv liefern. Auch interessierten Laien hilft das Werk dabei, medizinische Heilsversprechen besser einzuordnen und mit begründet kritischem Blick zu betrachten. Dank des pointierten Schreibstils bietet es zudem eine unterhaltsame Lektüre.

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