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Frei heißt nicht völlig beliebig

Haben wir einen freien Willen? Oder ist jede unserer Entscheidungen vorgegeben durch Gene, Epigenetik, Erziehung, Erfahrungen und Umwelt? Trifft unser Gehirn die Entscheidungen gar ohne, dass wir bewusst daran mitwirken, wie manche neurowissenschaftlichen Studien nahelegen? Und falls ja, was würde das für unsere Vorstellungen von Moral und Verantwortung bedeuten?

Der Philosoph und Journalist Julian Baggini gibt in diesem Werk einen Überblick über einschlägige naturwissenschaftliche Forschungen, philosophische Überlegungen und ethische Betrachtungen. Sein Fazit: "Die allgemeine Vorstellung von Willensfreiheit, die die Wissenschaft uns absprechen will, war immer schon falsch." Willensfreiheit, argumentiert er, bedeute nicht, dass wir vollkommen unabhängig von genetischer und sozialer Prägung handeln könnten. Wer beispielsweise auf Grund von Erziehung und Lebenserfahrung davon überzeugt sei, dass jedes Leben wertvoll ist, der könne nicht aus heiterem Himmel einen Menschen ermorden. Doch eine solche Wahlfreiheit sei auch gar nicht erstrebenswert. Vielmehr gehe es beim freien Willen darum, dass wir so handeln können, wie es unseren Werten, Überzeugungen und Zielen entspricht – auch wenn das unter Umständen dazu führt, dass nur eine einzige Option in Frage kommt. Eine freie Entscheidung kann durchaus vorhersehbar sein und setzt nicht notwendig voraus, dass wir auch hätten anders handeln können.

Was ist "Ich"?

Doch welchen Platz hat der freie Wille im Gehirn? Neuronen feuern schließlich nicht, weil sie von einem metaphysischen Etwas dazu veranlasst werden, sondern auf Grund von chemischen und elektrischen Signalen. Studien, bei denen die Gehirnaktivität von Probanden aufgezeichnet wurde, haben sogar ergeben, dass das Gehirn teils mehrere Sekunden, bevor man sich dessen bewusst wird, Bewegungen veranlasst. Entscheiden also gar nicht "wir" im Sinne dessen, was wir als unsere Persönlichkeit bezeichnen, sondern unser Gehirn?

Diese Frage führe in die Irre, schreibt Baggini, denn schließlich sei das Gehirn ein Teil von uns und könne nicht isoliert betrachtet werden. Die einzig sinnvolle Schlussfolgerung aus den Experimenten sei, dass nicht jede Entscheidung bewusst abläuft. Doch auch eine unbewusste Entscheidung könne frei sein. Baggini verdeutlicht dies am Beispiel eines Künstlers: Dessen Freiheit drücke sich gerade darin aus, dass er seiner Kreativität freien Lauf lasse und nicht bewusst kontrolliere. Die Frage, welche Neuronen genau dafür zuständig sind, sei für ihn irrelevant, da er die eigene freie Schaffenskraft alltäglich erfahre und nutze.

Für sein Buch hat Baggini mit vielen Menschen gesprochen, darunter Künstler und Neurowissenschaftler, Suchtkranke, Psychiater, Philosophen und politisch Verfolgte. Für die letzten hat Willensfreiheit eine ganz andere Dimension – wer in einem Land ohne Meinungsfreiheit lebt, kann seinen freien Willen nur in einem eng gesteckten Rahmen entfalten. Gleiches gilt für Menschen, die mangels Bildung nie gelernt haben, kritisch zu denken ihre Werte und ihr Handeln zu reflektieren. Den freien Willen, folgert Baggini, müssen wir uns also erarbeiten und können ihn in Abstufungen mehr oder weniger nutzen.

Synthese von Empirie und Intuition

Da der Autor seine Ideen an konkreten Personen und alltagsnahen Beispielen erläutert, fällt es leicht, seinen Gedanken zu folgen. Am Ende jedes Kapitels fasst er zusammen, was man aus den bisherigen Ausführungen mitnehmen kann. Stets verdeutlicht er, inwiefern seine Darstellungen auf die Arbeiten anderer Philosophen zurückgehen und dass Philosophen nicht nur mit Naturwissenschaftlern über das Thema streiten, sondern auch untereinander. Seinen Lesern stellt er es frei, den vorgetragenen Argumenten zuzustimmen oder sich eine andere Meinung zu bilden.

Abschließend versucht der Autor, die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, die der Willensfreiheit zu widersprechen scheinen, mit dem intuitiven Gefühl zu vereinen, dass wir einen freien Willen haben. Der Schlüssel dazu sei, den freien Willen als vielschichtiges Phänomen zu betrachten. Je nach Kontext und Perspektive könne eine Entscheidung sowohl frei als auch vorherbestimmt sein, sowohl das Ergebnis selbstständiger neuronaler Prozesse als auch einer bewussten Überlegung. Daher könne man Menschen für ihr Handeln verantwortlich machen, auch wenn man anerkennt, dass sie es nicht vollständig selbst bestimmt haben. Gleichzeitig führe diese Sichtweise zu mehr Verständnis für die zu Grunde liegenden Prägungen, die zum jeweiligen Handeln geführt haben. Baggini plädiert somit für eine "realistische Einschätzung", die dem alltäglichen Erleben nahe kommt. Sein Buch regt dazu an, über den freien Willen nachzudenken und – allen Kontroversen zum Trotz – dabei zu einer versöhnlichen Lösung zu kommen.

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