Direkt zum Inhalt

Tintenklecks-Orakel

Über die Geschichte des Rorschachtests.

Vielen großen Personen der Weltgeschichte ist es verwehrt geblieben, den Erfolg ihres Werks mitzuerleben, darunter Vincent van Gogh, Jackson Pollock und Johann Sebastian Bach. Ähnlich erging es auch dem Schweizer Psychiater Hermann Rorschach (1884–1922), Entwickler des zum Kult gewordenen psychologischen Tests, der mit 37 Jahren an einer Bauchfellentzündung starb. Seit der Veröffentlichung 1921 haben die berühmten Tintenkleckse Einzug in die Klinik sowie die Popkultur gehalten.

Anhand von zehn Tafeln wollen Psychologen und Psychiater den Geisteszustand von Patienten ergründen; in den USA kommt der Test sogar vor Gericht zum Einsatz. Ein Richtig oder Falsch gibt es bei der Deutung der Faltbilder zwar nicht. Die Anwender glauben jedoch, dass es kein Zufall ist, ob jemand eine Fledermaus, einen Blumenstrauß oder Geschlechtsteile in den mehrdeutigen Formen erkennt. In den Antworten sollen sich nicht nur psychische Störungen offenbaren, sondern auch die kognitive Leistungsfähigkeit.

Spurensuche in Briefen, Interviews und Tagebucheinträgen

Der Autor Damion Searls ist Schriftsteller und Übersetzer unter anderem von Rilke und Proust. In mühevoller Kleinarbeit verfasste er aus unveröffentlichten Briefen, Interviews und Tagebuchaufzeichnungen Hermann Rorschachs diese umfassende Biografie. Das Buch folgt chronologisch dessen Leben und Wirken. Zunächst erzählt es von seiner Kindheit und Jugend sowie seinem Werdegang als Psychoanalytiker – untermalt mit historischen Fotografien und Zeichnungen. Anschließend erfährt der Leser detailreich von der Entstehung des Rorschach-Tests, dessen Anwendung und Auswertung. Darüber hinaus behandelt Searls den Einsatz des Tests im Lauf der Geschichte – etwa an Nazigrößen nach Ende des Zweiten Weltkriegs – und den Streit innerhalb des Fachs, den er auslöste.

Das Problem: Der Rorschachtest genügt den gängigen wissenschaftlichen Kriterien nicht. Je nach Auswerter können völlig verschiedene Deutungen zu Tage treten. Was der eine als normale Antwort ansieht, findet der andere auffällig. Zudem neigt der Test dazu, vorschnell zu pathologisieren. In Deutschland ist das Tintenklecks-Orakel deshalb aus der klinischen Praxis so gut wie verschwunden, als Symbol für die Seelenkunde allerdings in den Köpfen geblieben. Searls ist mit diesem Band ein differenziertes Stück Kultur- und Wissenschaftsgeschichte gelungen. Er schafft es, in 24 Kapiteln tief in die Psyche Rorschachs vorzudringen und den Lesern damit das Menschenbild eines angesehenen Psychoanalytikers des 20. Jahrhunderts sowie dessen Lebenswerk näherzubringen.

Kennen Sie schon …

Gehirn&Geist – Verbrechen: Die Psychologie des Bösen

Warum faszinieren wahre Verbrechen? True Crime ist ein Spiegel unserer psychologischen Neugier: Was macht Menschen zu Tätern – und wie gelingt es Ermittlern, die Wahrheit ans Licht zu bringen? In dieser Ausgabe geht es um die Kräfte, die Menschen in den Abgrund treiben oder zurückholen. Wir zeigen, warum Rache selten Frieden bringt, wie gefährliche Häftlinge in Sicherungsverwahrung leben, was das Stockholm-Syndrom über Überlebensstrategien verrät und mehr.

Spektrum - Die Woche – Von der Entropie zur Quantengravitation

Die Verbindung von Schwerkraft und Quanten ist ein zentrales Rätsel der Physik. Die Informationstheorie liefert Antworten – und vielleicht den Schlüssel zur Quantengravitation. Außerdem: Eine Revolution des Bauens? Carbonbeton benötigt im Vergleich zu Stahlbeton nur einen Bruchteil des Materials.

Gehirn&Geist – Multiple Persönlichkeit: Was hinter der dissoziativen Identitätsstörung steckt

Manche Menschen scheinen verschiedene Ichs in sich zu tragen, die im Wechsel die Kontrolle über den Körper übernehmen – mit jeweils eigenem Alter, Namen und Geschlecht. Unsere Experten, die zu dissoziativen Phänomenen forschen, stellen die wichtigsten Fakten zur »Multiplen Persönlichkeit« vor. Ergänzend dazu geht die Psychologin Amelie Möhring-Geisler der Frage nach, ob rituelle Gewalt in der Kindheit gezielt Persönlichkeitsspaltungen herbeiführt. In dieser Ausgabe beginnt zudem eine neue Artikelserie zum Thema »Long Covid und ME/CFS«. Im Interview spricht Carmen Scheibenbogen von der Berliner Charité über Ursachen von ME/CFS, den Versorgungsmangel in Deutschland und Hoffnung auf Medikamente. Darüber hinaus berichten wir über das Glücksparadox, das besagt: Je mehr wir dem Glück hinterherjagen, desto weiter entfernt es sich. Wir stellen das Thema psychotherapeutische Patientenverfügung vor, die im psychischen Krisenfall eine große Hilfe sein kann, sowie die noch immer rätselhafte Schmerzerkrankung Fibromyalgie, über deren Ursachen noch viel spekuliert wird.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.