»Insekten – Erfolgsmodelle der Evolution«: Die erstaunliche Parallelwelt der Insekten
»Seit über 300 Millionen Jahren gibt es Insekten. Während dieser langen Zeitspanne gelang es ihnen, nahezu alle Lebensräume auf diesem Planeten zu besiedeln.« Werner Gnatzy, einer der führenden Insektenforscher, und Jürgen Tautz, einer der führenden Bienenforscher Deutschlands, beschreiben das Universum der Insekten mit ihrer Schönheit und Bedeutung für Mensch und Natur. »Die Insekten brauchen uns nicht, aber wir brauchen sie, denn wenn es immer weniger Insekten gibt, steht das gesamte Netzwerk, in dem Tiere und Pflanzen eng verwoben sind, auf dem Spiel.« Auf wissenschaftlichem Niveau, gut verständlich auch für interessierte Laien, erschließt das Buch eine faszinierende Welt nahezu unbegrenzter Entfaltungsmöglichkeiten; detaillierte Erläuterungen, verbunden mit aussagestarken farbigen Makroaufnahmen und eindrucksvollen rasterelektronenoptischen Bildern, vermitteln umfassendes Wissen.
»Ohne Insekten wäre die Welt Ödnis.« Den Autoren ist es ein Anliegen, die Kriterien aufzuzeigen, die Insekten zur eindeutig erfolgreichsten Organismengruppe im Verlauf der bisherigen und sicherlich auch künftigen Entwicklung des Lebens auf der Erde werden ließ. Ihre Artenzahl kann nur erahnt werden; etwa 1 Million ist bis jetzt beschrieben, Forscher schätzen ihre Zahl auf 15 bis 30 Millionen. Ihr Größenspektrum reicht von 0,21 Millimetern (Wespen) bis zu über 30 Zentimeter Länge (Stabheuschrecken), ihre Individuenzahl wird auf eine Trillion und ihr Gesamtgewicht auf 2,7 Milliarden Tonnen (das Fünffache aller heute lebenden Menschen) geschätzt. Ihre Erfolgsgeschichte begann vor etwa 400 Millionen Jahren, wobei das Ur-Insekt Rhyniella bereits die typischen Merkmale aller Insekten – Dreiteilung des Körpers in Kopf, Rumpf, Hinterleib und sechs Beine – besaß.
Das Buch gliedert sich in zahlreiche Kapitel, deren Überschriften die jeweiligen Inhalte stichwortartig vorwegnehmen. Es eignet sich damit auch als Nachschlagewerk für tiefe Einblicke in die anatomische Formenvielfalt, physiologischen Eigenschaften und spezifischen Lebensweisen aller beziehungsweise ausgewählter Insektenarten.
Einige Beispiele: verschiedenste Formen der Insekteneier, das für Insekten merkmalbestimmende Exoskelett mit den fantastischen Eigenschaften der Cuticula, die Notwendigkeit der Häutung mit hemimetaboler oder holometaboler Entwicklung, die Tracheenatmung mit schnellem Sauerstoffgewinn (als Voraussetzung für das Fliegen), die Eroberung der Luft mit einer Vielzahl von Flügel- und Flugformen, die Physiologie der Färbungen und Farbmuster, die Facettenaugen mit Antireflexbelag, die ungewöhnlichen Supersinne (Kiefernprachtkäfer als fliegende Feuermelder), die Feindabwehr mit chemischen Keulen (Wanzen) oder mit K.-o.-Tropfen (Gelbrandkäfer). Grillen können mit den Vorderbeinen »hören«, Ameisen die CO2-Konzentrationen in ihren Nestern messen, um diese gegebenenfalls zu belüften, Bombardierkäfer sind in der Lage, Feinde durch Beschuss mit ätzendem Spray abzuschrecken und sich sogar, sollten sie von Kröten verschluckt werden, noch im Magen mit chemischer Keule so wehren, dass sie wieder lebend herausgewürgt werden.
Im Kapitel »Nachwort, fast schon ein Nachruf« verweisen die Autoren auf die verhängnisvollen Auswirkungen des Anthropozäns: »Ein Massensterben von Flora und Fauna ist in vollem Gange.« Die Zahl der Insekten befindet sich im Sinkflug, die Insektenpopulationen sind insgesamt um zirka 75 Prozent geschrumpft, bei den Schmetterlingen sind es 35 Prozent: »Das Insektensterben ist ein ernstes, globales Phänomen.«
Die nicht zu überschätzende Bedeutung der Insekten erstreckt sich auf viele Gebiete; so zum Beispiel würde die Welt in Müll versinken, wenn die Insekten nicht zur Zersetzung von Pflanzenmaterial und Tierkadavern beitrügen (allein Ameisen vertilgen mehr tierische Kost als alle Fleisch fressenden Säugetiere zusammen). Besonders wichtig ist die Aufrechterhaltung des äußerst fragilen Gleichgewichtes der wechselseitigen Abhängigkeit von Blütenpflanzen und ihren Bestäubern; in vielen Weltregionen ist dieses Gleichgewicht bereits stark gestört. In der Landwirtschaft sind es moderne Anbaumethoden und die Abnahme unproduktiver Flächen wie Magerrasen, in den industrialisierten Ländern die Flächenversiegelungen und die Lichtverschmutzung, die den Insekten das Leben schwer machen.
Als weitere negative Auswirkung des Insektenschwundes ist zu bedenken, dass mit dem Verlust von Insekten ein riesiges Arsenal synthetisierter biochemischer Verbindungen verloren geht: »Ohne antibakteriell, antiviral und antimykotisch wirkende körpereigene Substanzen könnten Insekten nicht überleben. Diesen Schatz haben wir für unsere Zwecke noch längst nicht auch nur annähernd gehoben und wir sollten ihn nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.«
»Insekten – Erfolgsmodelle der Evolution« ist ein Buch, das die Vielfalt und Bedeutung der Insekten für unseren Planeten in ihren Wechselbeziehungen zur gesamten Natur tiefgründig erschließt. Mit fesselnden Beschreibungen und großartigen fotografischen Einblicken in zum Teil bizarre Klein- und Kleinststrukturen bildet es ein herausragendes Werk der Insektenkunde und weckt, wie von den Autoren erhofft, Erstaunen, Ehrfurcht und Verständnis für eine »geniale Parallelwelt«.
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