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»Jenseits der Diagnosen«: Die neue Leid-Kultur

Zwischen Leistungsdruck und Krankheitsgewinn: Zwei Bücher gehen der Frage nach, warum die Zahl seelischer Diagnosen zunimmt.

Ob ADHS, Autismus, Angststörung oder Burnout: Psychiatrische Diagnosen sind in den westlichen Gesellschaften auf dem Vormarsch. Nach den Gründen dafür suchen die Soziologin Laura Wiesböck und der Psychotherapeut Holger Richter in zwei kritischen Essays. So ähnlich ihre Analysen ausfallen, so unterschiedlich sind doch die Schlussfolgerungen.

Beide Autoren sehen die in den letzten Jahren zu beobachtende Entstigmatisierung seelischer Leiden grundsätzlich positiv. Im Zuge dessen wurde es jedoch vor allem in den sozialen Medien Mode, dass sich Menschen selbst als »depressiv«, »autistisch« oder »hyperaktiv« labeln. Viele von ihnen sehen darin kein Defizit, sondern einen festen Bestandteil ihrer Identität. Anders oder »neurodivers« zu sein, gilt als Auszeichnung, die Zuspruch garantiert. Wird hier vermeintliches Leiden instrumentalisiert – zum Nachteil von tatsächlich Kranken?

Die Wiener Soziologin Laura Wiesböck folgt in Digitale Diagnosen (Zsolnay Verlag, 2025, 176 S., € 22,–) der Maxime »hard on systems, soft on people«; sie will also gesellschaftliche Bedingungen kritisieren, nicht Individuen. Wiesböck schildert viele Kollateralschäden des Psychohypes im Netz – von der Pathologisierung alltäglichen Unbehagens bis zu selbst ernannten Fachleuten, denen allerdings jede echte Expertise fehlt. Inszenierungen etwa von »sad girls«, die sich beim Weinen filmen, aber auch krude Heilsversprechen (»Du hast es selbst in der Hand!«) seien online omnipräsent. Die Ursache dafür sieht Wiesböck in einer fatalen Mischung aus digitaler Aufmerksamkeitsökonomie und neoliberalem Selbstoptimierungsstreben.

Gibt es eine »maligne Regression«?

Der Dresdner Psychologe Holger Richter schöpft seine Kritik hingegen aus der eigenen therapeutischen Praxis. In Jenseits der Diagnosen (W. Kohlhammer Verlag, 2024, 265 S., € 39,–) beklagt er die Neigung seiner Zunft zu ignorieren, was Sigmund Freud (1856–1939) bereits als »Krankheitsgewinn« bezeichnete: Nutzen, den Patienten, oftmals unbewusst, aus ihrem Leiden ziehen. So würden Opfererzählungen in der Therapie so gut wie nie hinterfragt und Menschen in ihrer »malignen Regression«, also in Schuldzuweisungen etwa an Eltern, Partner oder sonstige Prägungen, bestärkt. Dies drücke sich in der inflationären Klage über »toxische« oder traumatische Erfahrungen aus.

Richters Bestandsaufnahme der Hypertherapeutisierung bricht allerdings schon nach rund vierzig Seiten ab, um gut einem Dutzend länglicher Fallerzählungen Platz zu machen. Sie münden jeweils in einen »Krankheitsplot«, der beschreibt, was sich hinter der jeweiligen Diagnose tatsächlich im Erleben und Verhalten der Betreffenden verbirgt.

Während Wiesböck soziologisch argumentiert und dabei oft ins subjektlose Passiv abgleitet (»es wird verlangt …«), nimmt Richter den Drang des Einzelnen nach Anerkennung ins Visier. Demnach erkaufe man sich mit neurotischem oder auffälligem Verhalten, so unangenehm es sei, häufig Empathie und Schonung – und gerade das verstetige das Problem. Er behauptet dabei nicht, das Leiden sei in solchen Fällen nur »gespielt«, allerdings müsse man die Interessen der Patientinnen und Patienten auch jenseits ihrer konkreten Diagnose- oder Therapiewünsche in den Blick nehmen.

Interessante Analysen, halbgare Lösungen

Anders als der beherzt austeilende Richter signalisiert Wiesböck mit Formeln wie »migrantisiert« oder »weiblich gelesen«, dass sie sensibel im Umgang mit marginalisierten Gruppen agieren möchte. Bei ihr ist das Individuum stets von einem System getrieben, das sie gern als »neoliberal« kritisiert. Leider bleibt offen, was genau Wiesböck damit meint. Der Erkenntnismehrwert dieses Schlagworts erschießt sich nicht, da seelische Diagnosen ja etwa in den Wohlfahrtsgesellschaften Skandinaviens ebenso zugenommen haben wie in der Hochburg des Turbokapitalismus, den USA. Fraglich bleibt auch, worin das »Ändern der Verhältnisse«, für das die Autorin plädiert, bestehen und was es hinsichtlich psychiatrischer Diagnostik bringen soll. Meint Wiesböck, mehr Mindestlohn oder weniger Konkurrenzdruck würden die Diagnoseflut eindämmen? Lässt sich mit staatlicher Kontrolle von Online-Plattformen jenes Influencertum einhegen, das den emotionalen Zuspruch zum Geschäftsmodell gemacht hat? Wohl kaum.

Auch wenn unsere kapitalistische Gesellschaft auf Leistungs- und Konkurrenzdenken basiert, lässt sich wissenschaftlich nicht belegen, dass diese Tatsache vermehrt psychische Leiden verursache. Vielmehr spricht einiges dafür, dass individuelle Glücksansprüche zu einer marktgängigen Ware geworden sind: Es war noch nie so leicht, Zuspruch und »Betroffenheit« zu monetarisieren. Wiesböcks Aufruf zur Toleranz gegenüber dem Anderssein in Verbindung mit der vagen Utopie eines anderen »Systems« wirkt insofern wie eine überholte soziologische Floskel.

Doch auch Richters Plädoyer für mehr Zumutung und Strenge läuft ins Leere. Denn weder die Behandelnden noch die Patienten-Community wollen das – zu hoch ist der Anspruch auf Nachsicht, Empathie und Anerkennung auf der gesellschaftlichen Werteskala geklettert. So wird sich auch kein Psychofluencer mit markigen Sprüchen die Reichweite verderben wollen.

Was also tun, um den Pathologien einer schönen neuen Leid-Kultur zu begegnen? Die hier vorgestellten Bücher liefern interessante Analysen, aber nur halbgare Lösungen. Angesichts des Psychohype scheint es unvermeidlich, dass immer mehr Menschen in ihren Eigenarten und »Macken« gesehen und akzeptiert werden wollen. Wie es dennoch gelingt, die gravierend Kranken in wirksame Therapien zu bringen und die »Neurodiversen« in der Online-Bubble zu lassen, bleibt eine Herausforderung.

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