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»Kampf ums Unbewusste«: Zurück auf die Couch

Als Therapieform kann die Psychoanalyse echte Verdienste vorweisen. Als Methode zur Gesellschaftskritik hat sie sich hingegen überlebt.

In den Kindertagen der Psychoanalyse, im Herbst 1906, erklärte Sigmund Freud seinen Studenten an der Wiener Universität: »Es könnte sein, dass die bisherige Psychologie durch meine Traumlehre getötet ist; aber sie merkt es noch nicht und lehrt weiter.« So drückte Freud seine Überzeugung aus, nur sein eigener tiefenpsychologischer Ansatz fördere die wahren inneren Beweggründe des Menschen zu Tage. Nach der Lektüre dieses Buchs könnte man ebenso spitz behaupten: Die psychoanalytische Gesellschaftskritik ist tot – aber sie merkt es noch nicht und macht einfach weiter.

Christina von Braun und Tilo Held sind seit mehr als 50 Jahren ein Paar. Sie ist Kulturwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Genderstudies, er Psychiater und Klinikgründer. Wie das Vorwort verrät, schrieb von Braun die ersten sechs Kapitel, Held die letzten drei – wobei ihr vorderer Teil mit 500 Druckseiten viermal so umfangreich ausfällt wie sein hinterer.

Von Brauns Haupttext ist eine Mischung aus kulturgeschichtlichem Abriss und aktueller Zeitkritik. Von den Anfängen der Psychoanalyse Ende des 19. Jahrhunderts bis heute verfolgt die Autorin zentrale Entwicklungslinien, unterbrochen von teils weitschweifigen Reflexionen über neue Bedrohungen durch künstliche Intelligenz, Fake News und Populismus. Von Braun referiert eine Fülle historischer Fakten, was durchaus beeindruckt. Allerdings liegt sie bei manchen Angaben daneben.

So heißt es etwa, Freud habe seinen 70. Geburtstag 1926 in Berlin gefeiert. In Wahrheit stieg die Party im Hotel Esplanade ohne ihn. Oder Freud habe Sabina Spielrein, die das Konzept des Todestriebs vorweggenommen habe, in seinem Werk nie erwähnt. Er zitiert sie aber in »Jenseits des Lustprinzips« – wenn auch leider falsch, denn mit einem Todestrieb hatte Spielrein nichts am Hut. Ernst Simmel, ein weiterer früher Pionier, habe »Kriegszitterer«, also vom Fronteinsatz traumatisierte Soldaten, mittels Psychoanalyse erfolgreich behandelt. Tatsächlich hat er das vor Militärs 1918 zwar behauptet, allerdings eher zum Zweck der Eigenwerbung. Das »Deutsche Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie« (auch bekannt als »Göring-Institut«), an dem die Nazis eine »deutsche Seelenkunde« etablieren wollten, wurde laut von Braun am 1. September 1933 gegründet – es eröffnete jedoch erst 1936. Es ließen sich weitere Beispiele anführen; alles in allem keine unverzeihlichen Schnitzer, aber genug, um an der Detailtreue des Buchs zu zweifeln.

Wenn das Unbewusste sich »durchsetzen« will

Schwerer wiegt, dass nicht klar wird, welche Lücke dieses Buch schließen soll und worauf genau es abzielt. Sehr oft ist vom »Unbewussten« die Rede, obwohl eigentlich die Psychoanalyse gemeint ist – ganz so, als habe diese die dunkle Seite der Psyche für sich gepachtet. Das Unbewusste werde von Akteuren, die oft nichts Gutes im Schilde führen, »besetzt« und »instrumentalisiert«, es brauche daher einen »Anwalt«, eine »Gefährtin«, um sich durchzusetzen. Das klingt befremdlich, denn weshalb sollte das Unbewusste überhaupt etwas wollen? Es ist einfach, was es ist – und darüber lässt sich trefflich spekulieren.

Sicher, viele gesellschaftliche Gruppen schüren dumpfe Emotionen, Wunschdenken, Konformismus oder die Verdrängung unangenehmer Tatsachen. Ob dies ausgerechnet ein Theoriekonstrukt unter dem Label »Psychoanalyse« verhindern kann, das sich gegen Widerspruch und Überprüfbarkeit weitgehend immunisiert (und übrigens nur wenig mit der durchaus hilfreichen Therapieform gleichen Namens zu tun hat)? Im Buch zumindest wird das weder plausibel gemacht noch durch Beispiele belegt.

Im Dienste ihrer Argumentation stellen die Autoren »Glaube« und »Vertrauen« einander gegenüber. Totalitäre Ideologien sowie populistische Strömungen unserer Tage versuchten, Glaubenssätze zu verankern, denen sich der Einzelne unterordnen müsse. Die Psychoanalyse hingegen, wir ahnen es, steht für reflexive Offenheit und eine Kultur des Vertrauens – Vertrauen etwa in die Kräfte des Unbewussten. In diesem Sinne heißt es: »Indem die 1960er Jahre an die Vielfalt der Diskurse der 1920er Jahre anschlossen, gelang es ihnen, nach der zerstörerischen Zeit des Glaubens dem Vertrauen wieder mehr Raum zu geben.« »Vertrauen« als gemeinsamer Nenner der Weimarer wie der 68er-Zeit? Darauf muss man erst einmal kommen!

Für Tilo Held, Autor des eher medizinisch-technischen Nachklapps, ist psychoanalytisches Wissen ebenfalls unentbehrlich für Erkenntnis und Kritikvermögen. Was dieses Wissen konkret beinhaltet, bleibt sein Geheimnis. Vielleicht die Idee von Libido und Ödipuskomplex? Infantile Sexualität und Über-Ich? Oder geht es doch nur um die abstrakte Verheißung, hinter die Kulissen der Psyche zu blicken?

Wenn an einer Stelle beklagt wird, heute käme kein Politiker mehr auf die Idee, einen Psychoanalytiker um Rat zu fragen, dann fragt man sich: Warum auch? Augenscheinlich ist die Zeit des tiefenpsychologischen Röntgenblicks, wie ihn Alexander Mitscherlich oder Horst-Eberhard Richter zelebrierten, vorbei. Der Habitus des »Ich sage euch jetzt mal, was ihr eigentlich wollt, denkt und fühlt« wirkt nicht mehr zeitgemäß, eher wie ein Relikt aus jenen Zeiten, als man im Hauptseminar mit ernster Miene die kapitalistische Triebstruktur entschlüsselte.

Dass wir die »freiwillige Unterwerfung« unter digitale Weltkonzerne und die Gefahren von Social Media, KI oder Fake News, die das Buch treffend benennt, mit mehr Psychoanalyse überwinden könnten, erscheint mehr als fraglich. Gesetzliche Regelungen, mehr Geld für Bildung und ein gelegentlicher Ausstieg aus der Filterblase – und zwar ein ganz bewusster – dürften zielführender sein.

Vielleicht ist die vage Idee einer psychoanalytischen »Aufklärung«, der dieses Buch folgt, die letzte Bastion derer, die irgendwann zwischen 1960 und 1990 akademisch sozialisiert wurden. Damals war Psychoanalyse vor allem eine Weltanschauung, heute ist sie »nur« eine Therapierichtung unter vielen, was von Braun und Held offenbar bedauern. Die Gesellschaft auf die Couch zu legen, war einmal schwer in Mode – wie Schlaghosen und »Mariacron«-Weinbrand. Heute ist es nicht viel mehr als eine abgegriffene Metapher.

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