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Buchkritik zu »Karnivoren«

Bis ins 18. Jahrhundert hinein galten die "unschuldige Anmut" und "verschwenderische Pracht" der Blütenpflanzen als paradiesischer Gegenentwurf zur räuberischen Lebensweise von Mensch und Tier. Selbst der große Carl von Linné misstraute allen Meldungen aus der Neuen Welt, die von einer Fleisch fressenden Pflanze berichteten. Die Venusfliegenfalle erschien dem Begründer der modernen Botanik zwar als ein "miraculum naturae" (Wunder der Natur), doch eine Pflanze, die Tiere anlocken, fangen und verdauen konnte, war "gegen die gottgewollte Ordnung der Natur" und somit unakzeptabel.

So blieb es Charles Darwin vorbehalten, hundert Jahre später die Existenz Fleisch fressender Pflanzen erstmals auch wissenschaftlich zu belegen. Die "Blumen des Bösen" – so der Titel der Einleitung in Anlehnung an einen bekannten Roman von Charles Baudelaire – fanden seither nicht nur Eingang in Comicstrips, Horrorfilme und Musicals, sondern gehören nach wie vor zu den Attraktionen botanischer Sammlungen und zu den Verkaufsschlagern der Gartencenter. Die Karnivoren-Liebhaber haben sich in Fachgesellschaften organisiert, und die Wissenschaft entdeckt immer weitere verblüffende Details aus der Lebensweise dieser bizarren Pflanzen.

Bis heute sind rund 600 verschiedene Fleisch fressende Pflanzen wissenschaftlich beschrieben; jährlich kommen etwa sieben neue Arten hinzu. Neben einer Fülle wissenschaftlicher Spezialpublikationen gibt es bereits eine Reihe hervorragender allgemein verständlicher Bücher, die sich allerdings vorrangig an den Gärtner wenden. Eine vollständige populärwissenschaftliche Übersicht zur Biologie und Kultur Fleisch fressender Pflanzen hat es bisher nicht gegeben.

Wilhelm Barthlott, Direktor der Botanischen Institute und Gärten in Bonn, sein Rostocker Fachkollege Stefan Porembski sowie Rüdiger Seine und Inge Theisen haben viele Jahre als Fachbotaniker zusammengearbeitet. Ihr gediegener Band informiert im allgemeinen Teil zunächst über die Vielfalt der Lebensräume und Lebensweisen sowie über die komplexe Evolution der Karnivoren und die wichtigsten Aspekte des Naturschutzes. Ergänzt wird die Darstellung jeweils durch ausführliche Hinweise zur gärtnerischen Kultur.

Karnivoren gelten vor allem wegen ihrer raffinierten Fangtechniken als die wohl faszinierendste aller Pflanzengruppen. Das Spektrum des Beutefangs reicht von den Gleitfallen tropischer Kannen und Becherpflanzen über die Klebefallen heimischer Sonnentauarten bis hin zu den "Tellereisen" der nordamerikanischen Venusfliegenfalle und den Reusen der Genlisea-Arten, in denen sich Pantoffeltierchen und andere Protozoen verfangen. Ferner wird über die Saugfallen der Wasserschlauchgewächse berichtet, deren Fangmechanismus mit der für Pflanzen sensationellen Reaktionszeit von 1/500 Sekunde zuschnappt.

Neben den unterschiedlichsten Verdauungs- und Verwertungsprozessen werden auch die hoch spezialisierten Formen der Symbiose und des Kommensalismus beschrieben, desgleichen alle nur denkbaren Vor- und Übergangsformen der Karnivorie. So machen die südafrikanischen Wanzenpflanzen zwar mit ihren passiven Klebefallen reichlich Beute, jedoch können sie diese mangels eigener Verdauungsenzyme nur mit Hilfe von symbiotisch lebenden Raubwanzen und Spinnen verwerten. Erst der Kot ihrer "Untermieter", den sie über die Blattoberfläche aufnehmen, dient ihnen als Pflanzendünger.

Es gibt auch Tiere fangende Pilze. Deren klebrigen Fangnetzen, -ringen und -knoten ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Der umfangreiche spezielle Teil beschreibt jeweils eine Reihe exemplarischer Vertreter aus jenen zehn Pflanzenfamilien, bei denen bislang Formen von Karnivorie nachgewiesen werden konnten. Dem schließt sich eine vollständige Übersicht der gültigen Gattungs- und Artnamen, Synonyme und der häufigsten Hybriden an. Nach Auskunft der Autoren liegt hiermit erstmals ein Gesamtverzeichnis aller Fleisch fressenden Pflanzen der Welt vor.

In diesem durchweg hervorragend bebilderten Band lässt allenfalls das Glossar einige Wünsche offen. So wird beispielsweise der Allerweltsbegriff "basal" erklärt, der Fachausdruck "circinat" hingegen nicht. Desgleichen wird erläutert, was ein Epiphyt ist, während man die Stichworte Rheo- oder Lithophyt vergeblich sucht. Abgesehen von diesen leicht vermeidbaren Unzulänglichkeiten ist dieses mit großer Sorgfalt und Kompetenz verfasste Pflanzenbuch ein wahrhaft blühendes Beispiel populärwissenschaftlicher Literatur.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 6/2006

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