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»Kinder – Minderheit ohne Schutz«: Für Kinder und nicht gegen Alte

Die alternde Gesellschaft ist nicht gerecht zu ihren Kindern – so die These der Soziologen El-Mafaalani, Kurtenbach und Strohmeier.

Der Ansatz, Kinder als Minderheit zu denken, ist nicht neu. Unter dem Begriff »Adultismus« wird in den letzten Jahren immer öfter diskutiert, welchen Diskriminierungen Kinder und Jugendliche ausgesetzt sind. Dennoch denken die meisten Menschen bei »Minderheiten« wahrscheinlich nicht zuerst an Kinder, sondern eher an Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund oder mit Behinderungen. Dieser Ansatz kann jedoch durchaus dazu beitragen, die mitunter schwierige Lebensrealität von Kindern besser zu verstehen. Zumal die Bevölkerungsstatistik belegt: Noch nie standen so viele Rentner so wenigen Kindern gegenüber. Denn statistisch, so die Aussage im vorliegenden Buch, komme derzeit auf zwei Rentner nur ein Kind. Zudem ist die Kindheit, gemessen an der gesamten Lebensspanne, vergleichsweise kurz. Auch Eltern leben vor der Geburt ihrer Kinder und nach deren Erwachsenwerden kinderlos. Betrachtet man nur die Zeit, in der sie tatsächlich mit ihren Kindern zusammenleben, sind auch Eltern gesamtgesellschaftlich eine relativ kleine Gruppe.

Diese Befunde allein sagen aber noch nicht unbedingt etwas über die konkrete Situation von Kindern und Jugendlichen aus. So gibt es Minderheiten, die stark von Diskriminierung betroffen sind, und andere, die vergleichsweise viel Macht und Einfluss haben, etwa Menschen mit großem Vermögen. Die Autoren zeigen jedoch eindringlich: Kinder werden gesellschaftlich benachteiligt. Die Lebensrealität junger Menschen sei geprägt von Bildungsungleichheit, Dauerkrisen und dem Gefühl, politisch und gesellschaftlich übersehen zu werden, argumentieren sie. Besonders schwer wiege diese Benachteiligung, weil Kinder im Gegensatz zu Erwachsenen nicht für sich selbst einstehen oder politischen Einfluss nehmen können.

Und ihre Eltern? Sind sie berufstätig, hetzen sie täglich von der Arbeit zur Kita und reiben sich zwischen Familie und Lohnarbeit auf. Zeit und Muße für politisches Engagement bleibe da kaum. Deshalb, so der Befund, seien Kinder eine Minderheit ohne Schutz. »Die Interessen und Bedürfnisse der Kinder werden nicht angemessen mitgedacht. Es gibt nur wenige Kinder, und sie werden behandelt wie Außenseiter. Sie sind, anders als andere Minderheiten, eine Minderheit ohne Minderheitenschutz«, heißt es im O-Ton.

Sachlich und differenziert

Der Ansatz, Kinder so konsequent als Minderheit zu betrachten, öffnet einem als Leser die Augen. Er erklärt, warum Kinder in politischen Entscheidungen oft nicht mitgedacht werden oder viele Arbeitsverhältnisse kaum mit Elternschaft vereinbar sind. Außerdem versteht man, warum insbesondere Politiker eher alte Menschen im Blick haben, wenn sie die demografische Entwicklung thematisieren, obwohl diese Veränderungen Kinder besonders stark betreffen: Alte Menschen stellen schließlich die derzeit größte Wählergruppe dar.

Mit ihrem Buch machen die Autoren nicht nur die Lebensrealität von Kindern sichtbarer, sie regen zugleich auch zu einem neuen Denken über Kinder an  – das ist Soziologie im besten Sinne! Durchweg entwickeln El-Mafaalani, Kurtenbach und Strohmeier interessante Thesen und Perspektiven zu einem vermeintlich erforschten Thema. Neben ihrer Kernidee, Kinder als Minderheit zu denken, fordern sie etwa dazu auf, Kindheiten als superdivers und ältere Menschen als Teil der Lösung zu betrachten oder aus Schulen Lebens- statt Lernorte zu machen. Vereinfachenden und populistischen Schlussfolgerungen setzen die Autoren differenzierte Analysen entgegen. Ihr Buch ist daher auch kein Plädoyer für mehr Kinder, sondern eine Aufforderung, Kinder und Jugendliche bestmöglich zu unterstützen.

»Kinder – Minderheit ohne Schutz« ist eine sachliche Auseinandersetzung mit dem demografischen Wandel. Der größte Teil des Buchs widmet sich der Problemanalyse, erst in den letzten Kapiteln werden mögliche Lösungen skizziert. Die Autoren formulieren dabei auch provokante Thesen und starke Argumente – bleiben jedoch stets auf dem Boden wissenschaftlicher Forschung. Sie zitieren Studien, zeigen Zusammenhänge auf und verweisen auf theoretische Konzepte. Diese wissenschaftliche Sachlichkeit ist denn auch eine der großen Stärken des Buchs. »Können bitte alle politischen Entscheidungsträger dieses Buch lesen?«, fragt eine Leserin auf einer Online-Plattform. Das wäre in der Tat wünschenswert. »Kinder – Minderheit ohne Schutz« ist ein längst überfälliger Beitrag zur Debatte über die alternde Gesellschaft.

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