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Verursacher und Leidtragende

Manche tragen viel weniger zum menschengemachten Klimawandel bei als andere, müssen aber viel stärker seine Folgen tragen. Ein Problem, dessen sich auch die Philosophie annimmt.

»Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut«, so klang es im Jahr 2019 immer wieder freitags auf den Straßen. Mit Slogans wie diesem bringt die Bewegung »Fridays for Future« ihre Kritik an politischen Entscheidern auf den Punkt, die sich nach wie vor schwer damit tun, effektive Lösungsstrategien zu beschließen, um mit der Herausforderung Klimawandel umzugehen.

Natürlich ist den meisten Demonstrierenden bewusst, dass eine derart verkürzte Kritik den komplexen Sachzwängen nicht gerecht wird, denen sich Staatsmänner und -frauen ausgesetzt sehen. Doch welche Verantwortung haben führende Politiker angesichts des menschengemachten Klimawandels und seiner zahlreichen Folgeprobleme? Warum ist es so schwer, tragfähige Lösungen dafür zu finden? Und ist die Demokratie als Staatsform überhaupt in der Lage, einer so vielschichtigen Herausforderung zu begegnen? Eine ausführliche Auseinandersetzung mit solchen Fragen bietet der Sammelband »Klimawandel und Ethik«, zu dem insgesamt neun Autorinnen und Autoren beigetragen haben – und zwar ausnahmslos Personen, die darüber forschen und lehren.

Generationenkonflikt

In neun Kapiteln analysieren die Verfasser zahlreiche Konfliktlinien, die mit dem Klimawandel zusammenhängen. Einige davon sind offensichtlich. Etwa, dass die älteren Generationen einen Großteil der Treibhausgasemissionen zu verantworten haben, die jüngeren aber mit deren Konsequenzen werden leben müssen. Ähnlich gut bekannt sind Konflikte zwischen Staaten, die mehr oder weniger stark zum Klimawandel beitragen beziehungsweise von dessen Folgen betroffen sind – oft in umgekehrtem Verhältnis. Komplexer wird es bei der Erläuterung, weshalb die globale Verteilung von Ressourcen, um Treibhausgasemissionen zu reduzieren beziehungsweise sich an den Klimawandel anzupassen, nicht unabhängig voneinander erfolgen sollte. Und für den Großteil der Leser völlig neu dürfte die Frage sein, ob kausale Verantwortung automatisch mit moralischer Verantwortung einhergeht. Lässt sich eine weitgehend sinnfreie, ressourcenvernichtende Handlung wie eine Spritztour mit dem Verbrenner-Pkw moralisch verurteilen, wenn sie lediglich dann zum Problem wird, sobald viele Menschen dies tun?

Zu derartigen Themen haben Klimaethiker und Philosophen wie der Brite John Broome oder die US-Amerikaner Dale Jamieson und Henry Shue bereits in den 1990er Jahren wegweisende Artikel verfasst. Übersetzt sind diese Artikel ebenso in den Sammelband eingeflossen wie neuere Beiträge der deutschen Herausgeber, des Philosophieprofessors Andreas Niederberger und seiner Mitarbeiter Jan Gehrmann und Ruben Langer. Weil die einzelnen Kapitel unter unterschiedlichen zeitlichen und geopolitischen Rahmenbedingungen entstanden sind, spiegeln sie zahlreiche Eindrücke und Sichtweisen wider. Dies erklärt, warum die Autoren teils zu widersprüchlichen Schlüssen gelangen. Dale Jamison etwa vertritt die Ansicht, unser ökonomisches Wertesystem eigne sich nicht dafür, angemessen auf die Herausforderungen des Klimawandels zu reagieren. Dies betreffe den Kern der Demokratie, weshalb man konsequenterweise über alternative Regierungsformen nachdenken müsse. Jan Gehrmann und Andreas Niederberger halten dagegen, dass die Demokratie bessere Voraussetzungen biete als andere Staatsformen, um sich multinational und verbindlich auf gerechte Lösungswege zu verständigen.

Angesichts des komplexen Inhalts und der unterschiedlichen Argumentationslinien in dem Band ist es überaus hilfreich, dass Ruben Langer eine kurze Zusammenfassung liefert sowie die Folgebeiträge einordnet. Dies sowie das Glossar am Ende des Buchs ermöglichen auch solchen Lesern eine Gewinn bringende Lektüre, die kein geisteswissenschaftliches Studium absolviert haben. Anstrengend bleibt es dennoch. Dafür sorgen außer dem Inhalt auch die langen Sätze und das hohe sprachliche Niveau. Zudem tauchen zahlreiche Fußnoten und Referenzen auf.

Zuvorderst richtet sich das Werk an ein Fachpublikum. Das ist schade, denn während über die geophysikalischen und politischen Facetten des Klimawandels relativ viel Populärwissenschaftliches erscheint, existiert zu den philosophischen Aspekten vergleichsweise wenig allgemein verständliche Literatur.

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