»Konfliktzone Ostsee«: Das bedrohte »Herz Europas«
Sandstrand, Fischbrötchen und sanfter Wellengang. Die Ostsee steht, so sollte man meinen, vor allem für entspannten Urlaub. Der Journalist und Autor Oliver Moody zeichnet jedoch ein ganz anderes Bild. Da heißt es: »Schlacht im Ostseeraum«, »Imperium der Ausweglosigkeit« oder »existenzielle Bedrohung«. Das »kleine Meer« erscheint als Brennpunkt für Konflikte und Kriege, obendrein kämpft man mit vergiftetem Wasser. Könnte dort ein neuer Krieg beginnen? Wie sind die Kriegsschiffe oder U-Boote der jeweiligen Länder ausgerüstet? Welche Auswirkungen hätte ein Atomschlag? Was denken die Regierungen über Atomwaffen? Und wie anfällig ist der Ostseeraum für Sabotageakte – wie den Angriff einer »ukrainischen Organisation« auf die Gasversorgung – oder russische Störmanöver?
Nicht Strandurlaube, sondern Säbelrasseln und die Aggressionen Russlands prägen in Moodys Darstellung das Lebensgefühl in der »Konfliktzone Ostsee«. So zitiert der Autor denn auch keine Tourismusforscher, sondern Militärexperten wie Michael Hart, Ex-General und Geheimdienstoffizier der Royal Air Force, der meint: »Jeder künftige Konflikt im Bereich der Ostsee wird dadurch gekennzeichnet sein, dass nach einer Weile nicht mehr viel übrigbleibt. Das ist ja kein großes Meer.« Gleichzeitig scheint es aber unrealistisch, dass ein Krieg tatsächlich in der Ostsee ausgetragen wird, verfügt sie doch nur über einen Zugang, der leicht blockiert werden kann.
Um die im Ostseeraum herrschenden Konflikte verständlich zu machen, skizziert Oliver Moody die Geschichte einiger Anrainerländer: Finnland, Estland, Lettland, Dänemark, Polen, Litauen und Deutschland. Er schildert die jeweilige politische und wirtschaftliche Situation und führt dabei auch weniger bekannte Fakten an. Beim Umgang mit Minderheiten hat etwa Finnland ein Problem: 68 Prozent der »People of Color« dort müssen rassistische Beleidigungen ertragen. Und Litauer haben, so berichtet Moody, im Zweiten Weltkrieg aus eigenem Antrieb zahlreiche Massaker an Juden verübt und eine beispiellose Vernichtung jüdischer Menschen mitverursacht: 96 Prozent der 220 000 Juden und Jüdinnen, die bis 1941 in Litauen gelebt hatten, wurden ermordet. Dennoch tragen zahlreiche Straßen immer noch die Namen »litauischer Patrioten« wie Jonas Noreika, der, so der Autor, die Ermordung von bis zu 14 000 Juden persönlich angeordnet oder gebilligt hätte, aber noch immer als Nationalheld gefeiert werde.
Deutschland begreife den Ernst der Lage nicht
Oliver Moody ist ein ausgewiesener Experte für die Region. Er arbeitet seit 2018 als Skandinavien-Korrespondent für »The Times« und »The Sunday Times« und bereist die baltischen Länder regelmäßig. Im Zentrum seines Buchs stehen die Veränderungen, die der Ostseeraum durch den Krieg in der Ukraine erfahren hat – die Wörter »Putin« und »Ukraine« gehören zu den häufigsten im Text. So führe dieser Krieg zum Erstarken des Nationalismus in den baltischen Ländern. Finnland und Lettland unterstützten die Ukraine schon früh mit Waffen, weil sie den Widerstand der Ukrainer als Teil ihres eigenen Selbstbehauptungskampfs sehen. Die Deutschen kommen bei Moody nicht gut weg. Das deutsche Wahlvolk, rügt er, beschäftige sich lieber mit Themen wie Arbeit, Mieten, Bildung und Migration als mit der russischen Bedrohung.
Es sei heutzutage wichtiger denn je, den Ostseeraum und die dortigen Konflikte zu verstehen. Denn die Ostsee sei eine verletzliche Region, in der wenige Fehlkalkulationen einen »nuklearen Weltenbrand« auslösen könnten. Gleichzeitig habe diese besondere Region auch die Kraft, ein Europa, das von langsamem Wachstum und Identitätskrisen geplagt werde, mit neuen Ideen zu versorgen, die gerade die skandinavischen Länder beisteuern könnten.
Das 500 Seiten starke und vielschichtig argumentierende Buch liefert jede Menge Wissenswertes, auch wenn im Text etwas zu oft ein »ich glaube« fällt. Einige Thesen, wie die zu Putins Motiven für sein Interesse am Ostseeraum – das der Autor unter anderem in Putins Biografie begründet sieht –, erscheinen sehr spekulativ. Und die Ostsee als »NATO-See« zu bezeichnen, sei falsch, so der Autor. Moody bedauert sehr, dass es bis heute kaum ein gemeinsames »Ostseeregion-Gefühl« unter den Anrainern gebe und die Ostsee in den letzten Jahrzehnten immer mehr aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit westlicher Staaten verschwunden sei. Denn der Ostseeraum sei »wahrlich das Herz Europas« und solle sich, so Moody, zu einem eigenständigen Machtzentrum entwickeln.
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