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Über den Ursprung der Menschenwürde

Die Ideengeschichte der Menschenwürde umreißt die Philosophin Martha Nussbaum in diesem Buch.

Es muss eine verstörende Erfahrung für Alexander den Großen (356-323 v. Chr.) gewesen sein: Als er einer Anekdote zufolge dem kynischen Philosophen Diogenes von Sinope (um 412-323 v. Chr.) anbot, ihm einen Wunsch zu erfüllen, soll dieser ihn mit der Bemerkung abgefertigt haben: »Geh mir aus der Sonne!« Offenbar, so die Lehre aus dieser Geschichte, braucht es zum menschlichen Sein und zur menschlichen Würde keines äußeren Schmucks, keiner Macht und keiner Reichtümer – für die Alexander in der Anekdote sinnbildlich steht.

Eine gutes Leben

Ausgehend von der antiken Philosophie der Kyniker und Stoiker befasst sich die Philosophin Martha Nussbaum (geb. 1947), Professorin an der Universität Chicago, in diesem Buch mit der ideengeschichtlichen Entwicklung der Würde, die jedem Menschen zukommt, und der Frage eines guten, weltbürgerlichen Lebens. Dass alle Menschen als gleichwertig und über jeden materiellen Preis erhaben betrachtet werden sollen, bezeichnet sie als eine der wichtigsten Einsichten westlichen Denkens. Hier liegt eine wesentliche Grundlage der nach dem Zweiten Weltkrieg ausgearbeiteten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.

Mit der Gleichheit eng verbunden ist die Vorstellung gerechten Handelns. Die Autorin weist jedoch darauf hin, dass die Gerechtigkeitsidee im Rahmen der Menschenrechte zwar gut ausgearbeitet sei, die Pflicht zur materiellen Hilfeleistung jedoch vernachlässigt werde.

Nussbaum skizziert die einschlägige Ideengeschichte in einem großen Bogen: beginnend bei der Stoa des römischen Staatsmanns und Philosophen Marcus Tullius Cicero (106-43 v. Chr.) sowie des römischen Kaisers Mark Aurel (121-180) über den niederländischen Diplomaten Hugo Grotius (1583-1645) bis hin zum schottischen Nationalökonomen und Moralphilosophen Adam Smith (1723-1790). Das Weltbild Ciceros, so die Autorin, sei grundlegend von der Gerechtigkeit in allen menschlichen Beziehungen bestimmt gewesen. Auch Grotius habe an diese Gedanken angeknüpft; seine Arbeiten lieferten wesentliche Grundlagen für die Entwicklung des modernen Völkerrechts. Dazu gehörte die Auffassung, dass jeder Nation gegenüber einer anderen eine moralische Bedeutung zukomme. Doch Grotius habe den Aspekt materieller Hilfeleistungen vernachlässigt, so Nussbaum. Smith wiederum fühlte sich in seinen Arbeiten sowohl Cicero als auch Grotius nahe und bot häufig Vorlesungen über deren Werke an. Die Autorin hebt hervor, Smith habe sich nicht nur für den wirtschaftlichen Freihandel eingesetzt, sondern im Rahmen seiner Moral- und Wirtschaftsphilosophie auch über die Umverteilung der Güter nachgedacht.

Mit all dem umreißt Nussbaum wesentliche gedankliche Wurzeln ihrer eigenen Philosophie. Denn am Ende des Buchs versucht sie, die skizzierte und aus ihrer Sicht unzulängliche Tradition in ihrer Version des so genannten Fähigkeitenansatzes weiterzuentwickeln. Sie argumentiert, dass die Tradition Gefahr laufe, Menschen mit starken Beeinträchtigungen nicht die gleiche Menschenwürde zuzugestehen. Der Fähigkeitenansatz soll diese Unzulänglichkeit beheben und menschliche Würde sowie die menschliche Wohlfahrt philosophisch weiter untermauern. Gemeinsam mit dem indischen Wirtschaftswissenschaftler und Philosophen Amartya Sen (geb. 1933) gehörte die Autorin in den 1980er Jahren zu den Mitbegründern des Fähigkeitenansatzes, der wichtige theoretische Grundlagen beispielsweise für den »Human Development Index« der Vereinten Nationen liefert.

Die menschliche Würde und ausgeübte Gerechtigkeit bezieht sie auf die »Fähigkeitskategorien« des Lebens, der körperlichen Gesundheit, der körperlichen Integrität, der Sinne, Fantasie und des Denkens, der Emotionen, der praktischen Vernunft, der sozialen Zugehörigkeit, der Beziehung zu Tieren und Pflanzen, dem Spielen sowie der Kontrolle über die eigene Umwelt. Diese Kategorien definiert sie in dem Buch detailliert. Im Gegensatz zu anderen Philosophen meint sie, dieser Ansatz solle zudem auf nichtmenschliche Tiere erweitert werden. Damit gesteht sie auch nichtmenschlichen Lebewesen eine Würde zu und wirft die Frage nach einem gerechten Umgang mit Tieren auf.

Das Buch bietet eine essayistische Zusammenstellung ideengeschichtlicher Stationen, die für die Philosophie der Autorin wichtig sind. Das macht die Auswahl natürlich subjektiv, da Leser, die eher an einer kontinuierlich-umfassenden historischen Darstellung interessiert sind, etwa ein Kapitel über Immanuel Kants Weltbürgertum vermissen werden. Smith dagegen – der oft fälschlicherweise nur als Wirtschaftstheoretiker wahrgenommen wird – würdigt sie vor allem als Moralphilosophen.

Der Band eignet sich als Hinführung zum Fähigkeitenansatz der Autorin und inspiriert dazu, über Würde, Moral und Gerechtigkeit in der Politik nachzudenken.

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