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»Kultur«: Kulturen sind keine Inseln

Kulturen sind keine abgeschotteten Einheiten, sondern beeinflussen sich immer schon gegenseitig – ob durch archäologische Entdeckungen, historische Überlieferungen oder in Kriegen.

Leben Menschen in je eigenen Kulturen, die es gegenüber Menschen aus anderen Kulturen zu schützen gilt? Sollten Menschen gar in ihren angestammten Kulturräumen bleiben, weil die Vermischung von Kulturen sonst zur Auflösung der historisch gewachsenen Identitäten führt?

Der in Deutschland geborene Martin Puchner, der in Harvard Literaturwissenschaft lehrt, verneint diese Fragen. Für ihn sind Kulturen keine abgeschotteten Einheiten, die sich aus sich selbst heraus über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende ausgebildet und dabei Eigenarten entwickelt hätten, die sie nicht mit anderen teilen würden. Kulturen stehen vielmehr, so der Autor, immer schon mit anderen Kulturen im Austausch und befruchten sich gegenseitig. Manchmal geschieht das gleichsam hinter dem Rücken der Beteiligten. So übernahm die antike griechische Kultur um 600 v. Chr. vieles aus dem Ägypten der Pharaonen, entwickelte dann aber zum Beispiel eine einfachere Schrift, die später wiederum das ägyptische Schriftwesen beeinflusste und vereinfachte. Eine »Absicht« dürfte man in einer solchen Wechselwirkung vergeblich suchen.

Manchmal vollzieht sich die gegenseitige Befruchtung von Kulturen aber auch sichtbarer, etwa im Kontext von Eroberungen oder durch direkte Übernahmen. In Rom orientierte man sich explizit an der griechischen Kultur, obwohl es sich bei ihr um die Kultur von Konkurrenten oder gar Feinden im östlichen Mittelmeer handelte. Um sich von der kulturellen Dominanz Griechenlands zu emanzipieren, erfand Vergil vor seinem Tod (19 v. Chr.) einen anderen Ursprung Roms als die überlieferte Stadtgründung durch die Wolfskinder Romulus und Remus; er erzählt vielmehr, der trojanische Prinz Aeneas sei nach der Niederlage Trojas den siegreichen Griechen entkommen, nach Italien geflohen und dort zum Stammvater der Römer geworden. Gleichzeitig verbindet Vergil in der »Aeneis« die römische mit asiatischen und afrikanischen Kulturen. Überhaupt war das Römische Reich sehr offen gegenüber anderen Kulturen; so wurden deren Götter häufig in die römische Götterwelt aufgenommen. Die integrative Kraft und Stärke Roms, die gut 1000 Jahre währte, gründete nicht zuletzt auf seiner kulturellen Offenheit.

Kulturen lassen sich nicht voneinander isolieren

Ähnlich befruchteten sich Christentum und Islam gegenseitig – auch und gerade wenn sie miteinander im Krieg lagen; etwa als die Araber Sizilien und Spanien eroberten oder die Kreuzritter bis nach Palästina vorstießen. Auch hätte die europäische Kultur viele ihrer bis heute prägenden Quellen aus dem antiken Griechenland verloren, wären sie nicht von der arabischen Kultur bewahrt worden, aus der sie im Mittelalter nach Europa reimportiert wurden. So konstatiert Puchner: »Die europäische und die islamische Geschichte und Geisteswelt sind untrennbar miteinander verflochten. Sie in heutiger Zeit auseinanderdröseln zu wollen, wäre vollkommen sinnlos.« (S. 210) Damit erteilt er allen eine Absage, die vom Islam als einer fremden Kultur sprechen, vor der man sich fürchten müsse.

Es geht dem Autor freilich nicht nur darum, allgemein aufzuzeigen, wie eng die Kulturen der Welt miteinander verflochten sind, sondern Puchner wartet in 15 Kapiteln mit konkreten Rekonstruktionen und Erzählungen auf. So berichtet er von Nofretete und Echnaton, die im 14. Jahrhundert v. Chr. in Ägypten eine Art frühen Monotheismus entwickelten – vor Moses und dem Judentum. Er würdigt Xuanzang, der sich im 7. Jahrhundert aus China nach Indien zu den Quellen des Buddhismus begab und nach 16 Jahren zurückkehrte, um die Religion in China zu beleben. Auch die Verdienste Hildegard von Bingens schildert der Autor. Nachdem Karl der Große einige Jahrhunderte zuvor bereits die römische Tradition des Kaisertitels aufgegriffen hatte, erschloss Hildegard im 12. Jahrhundert antike Quellen für die Weiterentwicklung des Heilwesens. Sie beflügelte damit eine zweite Renaissance der für Christen »heidnischen« Antike – lange, bevor es zur berühmten, eigentlich dritten Renaissance um 1500 kam.

Puchner schildert zudem sehr spannend und gut verständlich, wie Kulturgüter entdeckt wurden, von denen man entweder gar nichts wusste oder die man erst nach langem Suchen wiederfand. Er weist auch darauf hin, wie wichtig beim Zusammenspiel von Kulturen schon immer die Übersetzungen waren – eine Leistung, die bis heute weder in Form öffentlicher Anerkennung noch finanziell angemessen gewürdigt werde.

Das Buch hat eigentlich nur einen Fehler: Es ist – obwohl sein Untertitel dies behauptet – keine »neue Geschichte der Welt« (die wohl ohnehin niemand zu schreiben vermag). Martin Puchner stellt vielmehr prägende Ereignisse und Prozesse vor, die eindrucksvoll belegen, wie eng Kulturen miteinander verflochten sind. Damit befruchtet sein Buch die aktuelle Debatte über kulturelle Identität.

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