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»Kunst – Liebe – Religion«: Als ob das Reden über Liebe so einfach wäre …

Harry Lehmann beschreibt Kunst, Liebe, Religion und Philosophie als Medien mit besonderem Potenzial. Dies allerdings in der komplizierten Sprache der Systemtheorie.

Wenn wir uns im Gesundheitswesen befinden, geht es um Krankheit, in der Politik um Macht, in der Wirtschaft um Geld und Versorgung, bei den Gesetzen um Recht oder Unrecht, in der Wissenschaft um Wahrheit oder Unwahrheit. Die Gesellschaft besteht aus einzelnen, in sich geschlossenen Teilsystemen wie dem Wissenschafts-, Rechts- oder Wirtschaftssystem. Diese nutzen jeweils bestimmte Kommunikationsmedien und ihnen entsprechende immanente Symbole – so jedenfalls hat der deutsche Soziologe Niklas Luhmann (1927–1998) die Gesellschaft analysiert. Seine Systemtheorie ist noch heute eine gängige Methode der Gesellschaftsanalyse. Kritiker werfen ihr vor, sie stabilisiere vornehmlich die Gesellschaft und sei daher konservativ.

Welche Symbole nutzen wir, und in welchen Kommunikationsmedien befinden wir uns aber, wenn es um Kunst, Liebe, Religion, Sinn oder Philosophie geht? Diesen Fragen widmet sich der Philosoph Harry Lehmann. Seine Theorie der »Humanmedien« folgt den Spuren seines Vorbilds Luhmann, geht aber über das, was dieser zu den genannten Themen ausgeführt hat, hinaus.

Humanmedien sind für Lehmann Kommunikationsmedien, »die keine Funktionssysteme im herkömmlichen Sinne ausbilden«. Während bei Luhmann die Kommunikationsmedien »das Bewusstsein der Menschen mit ihren Wahrnehmungen, Gefühlen und Gedanken aus dem Fluss ihrer Spezialkommunikation ausschließen können, haben sich die Medien von Liebe, Kunst und Religion in der Moderne darauf spezialisiert, das Bewusstsein der Menschen […] gezielt einzuschließen«. Diese Kommunikationsmedien sind nach Lehmann »Reflexionssysteme«, in denen die Menschen die Kommunikationsprozesse, »in die sie involviert sind, beobachten können.« Damit stellen sie sich gleichsam gegen Teilsysteme wie Recht, Wirtschaft oder Politik und finden eine Position, um diese zu reflektieren und gegebenenfalls zu transzendieren.

In sehr großen Schritten eilt Lehmann durch die Geschichte der Kommunikationsmedien von Kunst, Liebe, Religion et cetera. Er folgt den großen Epochen von Antike, Mittelalter und Moderne und spitzt für diese Medien die Analyse auf wenige Aspekte und Beispiele zu, die man so wie er, aber eben auch anders interpretieren könnte. So konzentriert er sich im Kapitel »Liebe« im Mittelalter auf den Minnegesang, für die leidenschaftliche romantische Liebe ab dem Barock auf die Romanliteratur und für die selbst programmierte Liebe in der Gegenwart auf die Analyse eines Films. Das Kommunikationsmedium der Religion analysiert er als Dreischritt von dogmatischem Glauben, Reformation und der Wandlung zum singularisierten Glauben der Moderne. Einem ähnlichen Dreischritt folgen die Kapitel über Kunst, Philosophie und Sinn.

Humanmedien als besonderer Zugang zur Gesellschaft

Das Ganze ist hochtheoretisch, sehr formalistisch und stilistisch in fast der gleichen artifiziellen und zum Teil bürokratischen Sprache seines Vorbilds Luhmann formuliert, dessen Werk er verpflichtet bleibt. Lehmann geht es um die Anomalien bei Luhmann, aus denen heraus er seine »Theorie der Humanmedien« entwickelt. Diese weisen, so Lehmann, aus der Gesellschaft hinaus, vollziehen ein »re-exit« – wie etwa die Künstler der klassischen Moderne, die sich radikal von der Tradition absetzen und so die »eigene Codierung annullieren« wollten. Auf diese Weise entstünden, so Lehmann, in den Humanmedien besondere Positionen, aus denen heraus sich Gesellschaft kritisieren lasse. Die hochtheoretische und zum Teil schwer verständliche Sprache Lehmanns in diesen Ausführungen verwundert, kann er es doch sehr wohl ganz anders. Sein Buch Ideologiemaschinen, das ich ebenfalls rezensiert habe, ist in einer äußerst verständlichen und klaren Sprache verfasst.

Den wahrscheinlichen Grund für die mühselige Lektüre dieser Veröffentlichung verrät der Blick ins Impressum: Das Buch »beinhaltet die überarbeitete und gekürzte Fassung des zweiten und dritten Teils des 2006 […] erschienenen Buchs desselben Autors mit dem Titel ›Die flüchtige Wahrheit der Kunst. Ästhetik nach Luhmann‹«. Die Recherche ergibt, dass es sich hierbei um Lehmanns damalige Dissertation handelt; das erklärt die wenig leserfreundliche Sprache.

Allerdings findet sich diese durchaus relevante Information weder im Vorwort des Herausgebers noch im Nachwort des Autors. Tatsächlich erschließt sich mir nicht, warum diese Teile aus Lehmanns Dissertation fast 20 Jahre später überarbeitet und neu aufgelegt wurden. Zwar spricht der Autor im Nachwort von der Krise der liberalen Demokratie als aktuellem Kontext und verweist in diesem Zusammenhang auf seine »Ideologiemaschinen«; er bleibt aber eine schlüssige Erklärung für die Tatsache dieser überarbeiteten (wie?) Neuauflage ebenso schuldig wie dafür, warum sie in dieser Form erfolgt ist. Überflüssigerweise gehen Verlag und Autor damit das Risiko ein, dass der Leser sich durch diesen Mangel an Transparenz getäuscht fühlt.

So bleibt Lehmanns Antwort auf die wichtige Frage, welche besonderen Potenziale für eine Gesellschaft in der Kommunikation von Kunst, Liebe, Religion oder Philosophie schlummern, inhaltlich wie formal doch arg akademisch.

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