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Betrunkene Götter

Ein ehemaliger Direktor am British Museum stellt religiöse Objekte aus diversen Zeiten und Regionen vor.

Das neue Buch von Neil MacGregor, ehemaliger Direktor am British Museum, ist in jeder Hinsicht überraschend. Leicht zugänglich und in narrativem Stil geschrieben, befasst es sich mit einigen der wichtigsten Fragen der Menschheit: Warum sind Menschen religiös, und warum entwerfen sie religiöse Kultobjekte und Geschichten, die für ganze Gesellschaften maßgebend werden? Der Autor nähert sich seinem Thema, indem er Geschichten erzählt: von Bildern, Objekten und Skulpturen, in denen sich jeweils ein ganzer religiöser Kosmos widerspiegelt.

MacGregor möchte die religiösen Artefakte aus ihrer Zeit und Kultur heraus erklären und ihre Bedeutung als »Kitt« für die Gesellschaft hervorheben. Er beschreibt ihre ethischen und gemeinschaftsstiftenden Aspekte, vergleicht religiöse Objekte aus unterschiedlichen Zeiten und Regionen, setzt sie in Beziehung zueinander und zeigt auf, wo in der heutigen Welt ähnliche Auffassungen und Denkmuster zu finden sind. Insofern trägt sein Buch nicht nur zum Verständnis fremder Kulturen oder religiösen Denkens bei – es führt hinein in die Genese heutiger Denkmuster, Weltanschauungen und Ideologien.

Unpraktische Unsterblichkeit

Das Fazit der Lektüre: Ob vor 40.000 Jahren oder heute, ob in der Arktis oder am Äquator, Menschen versuchen immer wieder dieselben Fragen zu beantworten. Insbesondere jene nach Herkunft und Zukunft, Geburt und Tod, Glück und Leid, richtigem und falschem Handeln. Wie aus dem Buch hervorgeht, griffen Menschen dabei auch auf überraschend »profane« Erklärungen zurück. So deuteten sie manch unangenehmen Aspekt des Daseins etwa damit, dass im Götterhimmel zu viel Bier getrunken werde.

Unter den behandelten Mythen stechen besonders eindrucksvoll jene zum Pantheon der alten Mesopotamier hervor. Demnach haben die mesopotamischen Götter den Menschen geschaffen und ihm die Unsterblichkeit verliehen. Das führte allerdings dazu, dass die Erdlinge immer zahlreicher wurden und die Ruhe der Götter so sehr störten, dass diese nicht mehr schlafen konnten. Also beschlossen die letzteren, die Menschen durch eine große Flut zu vernichten. Maßgeblich voran trieb diese Entscheidung ein Gott namens Enlil, sein jüngerer Bruder jedoch unterlief den Beschluss, indem er einen Menschen namens Utnapischtim vor der Katastrophe warnte. Der konnte nun eine Arche bauen und seine Familie und viele Tiere retten. Die negativen Erfahrungen mit der Unsterblichkeit bewogen die Götter dazu, die Erdlinge sterblich zu machen, so dass deren Zahl begrenzt wurde.

In dem Buch ist die 2700 Jahre alte Tontafel abgebildet, auf der Teile dieser Erzählung in Keilschrift dokumentiert sind, ab – ein Anblick, der schon ein wenig ehrfürchtig macht. Die Tafel enthält einen Auszug des Gilgamesch-Epos, der die Götterwelt der Mesopotamier beschreibt und seinerseits noch einmal etwa 1000 Jahre älter ist. Das darin geschilderte Flutgeschehen ist eventuell eine ferne Erinnerung an das Ansteigen des Meeresspiegels am Ende der letzten Eiszeit und hat in der biblischen Geschichte von Noahs Arche ihre Spuren hinterlassen. Allerdings sahen die Autoren der Bibel die göttliche Flut im Fehlverhalten des Menschen begründet. An solchen Beispielen im Buch wird deutlich: Menschen versuchen, ihre Existenz zu erklären, und überschreiten dabei mit ihrem Denken die Grenzen dieser Welt.

Das älteste vorgestellte Objekt in dem Band könnte man fast als einen »Quantensprung« in der Geschichte des Menschseins bezeichnen. Es ist eine 30 Zentimeter große Statuette, etwa 40.000 Jahre alt und kunstvoll aus dem Stoßzahn eines Mammuts gearbeitet. Gefunden wurde es einer Höhle in der Nähe von Ulm. Das Besondere daran sei die Verbindung eines menschlichen Körpers mit dem Kopf eines Löwen, schreibt MacGregor: »Der Löwenmensch steht für einen kognitiven Sprung in eine Welt jenseits der Natur und jenseits menschlicher Erfahrung«.

Der Autor betont noch einen zweiten Aspekt dieser Statue. Sie wurde wahrscheinlich gemeinschaftlich genutzt und vielleicht sogar von Generation zu Generation weitergegeben. In diesem Sinne habe Religion begonnen, als Menschen in ihrer Vorstellungskraft die Grenzen der natürlichen Welt überschritten und gemeinsame Glaubensvorstellungen lebten. Ein Prozess, der immer noch andauert.

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