Direkt zum Inhalt

»Leib und Seele«: Die Medizin als Kind ihrer Zeit

Was Medizin mit Zeitgeist, Glauben und Macht zu tun hat: Werner Bartens präsentiert eine ebenso kritische wie lebendige Geschichte des Heilens.

Werner Bartens ist bekannt als Journalist und leitender Redakteur im Wissenschaftsressort der »Süddeutschen Zeitung«, als leidenschaftlicher Sachbuchautor, promovierter Historiker und Arzt. All diese Perspektiven vereint er in diesem Buch, in dem er sich auf eine Reise durch die Geschichte der Medizin begibt.

Wie diese Reise aussieht? »Menschlich« – so könnte man sie in einem Wort zusammenfassen. Doch dass damit keineswegs etwas Einfaches bezeichnet wird, vermittelt Bartens eindrücklich. Dem Menschlichsein geht das Menschsein voraus. Und Menschen sind komplex: geprägt von Widersprüchen, Höhen und Tiefen, von Mitgefühl ebenso wie von Irrtum, Unsicherheit oder Grausamkeit. Genau diese Ambivalenzen spiegeln sich in der Geschichte der Medizin wider – und in der Art und Weise, wie Bartens sie erzählt.

Der Autor geleitet seine Leserinnen und Leser durch Jahrtausende medizinischer Praxis – von spirituellen Heilversuchen in frühen Hochkulturen über mittelalterliche Aderlässe und Vier-Säfte-Lehren bis hin zur hochtechnisierten Intensivmedizin unserer Zeit. Dabei belässt er es nicht bei einer bloßen Aufzählung von Fortschritten oder bahnbrechenden Erfindungen. Vielmehr stellt er eine zentrale Frage: Wie sehr war Medizin je eine Hilfe – und wann war sie geprägt von Irrtümern oder gar ein Medium von Macht und Ausgrenzung?

Medizin zwischen Zeitgeist und Geschäft

Besonders fruchtbar wird Bartens’ Ansatz in jenen Kapiteln, in denen er zeigt, wie eng die medizinische Wahrnehmung mit dem jeweiligen Zeitgeist verflochten ist. Krankheiten, so schreibt er etwa mit Bezug auf den Onkologen Siddhartha Mukherjee, sind nicht nur individuelle Schicksale, sondern auch kulturelle Phänomene – sie spiegeln gesellschaftliche Ängste, Moralvorstellungen und Tabus. »Jede Ära hat ihre Krankheit.« Dass Aids in den 1980ern zur Symbolkrankheit wurde, habe ebenso mit sozialen Deutungen zu tun wie die heutige Faszination für Autoimmunerkrankungen.

Auch heutige Gesundheitspraktiken hinterfragt der Autor. Er analysiert etwa die Logik hinter Vorsorgeuntersuchungen und die wirtschaftlichen Interessen hinter ihrer Verbreitung. »Mittlerweile gilt als gesichert: Der Check-up bei Gesunden ist aus medizinischer Sicht meist überflüssig.« Dennoch boomen solche Angebote, weil sie vermeintliche Sicherheit versprechen und es in einem milliardenschweren Markt bei Diagnostik, Laboren und Geräteherstellern zahlreiche Profiteure gibt. Es sind Passagen wie diese, in denen Bartens nicht nur historisch erzählt, sondern aktuelle Widersprüche offenlegt.

Kritisch anmerken könnte man lediglich, dass »Leib und Seele« nicht den systematischen Aufbau eines Fachbuchs hat. Eine streng chronologische oder umfassende Darstellung kann man hier also nicht erwarten. Auch bleiben manche Epochen oder Perspektiven außerhalb der westlichen Medizin unterbelichtet. Doch hat Bartens seine Auswahl nicht beliebig, sondern bewusst getroffen: Er will nicht alles erklären, sondern Zusammenhänge erfahrbar machen und dazu anregen, Medizin auch als Kind ihrer Zeit zu verstehen. Das gelingt ihm.

Kennen Sie schon …

Spektrum - Die Woche – Von der Entropie zur Quantengravitation

Die Verbindung von Schwerkraft und Quanten ist ein zentrales Rätsel der Physik. Die Informationstheorie liefert Antworten – und vielleicht den Schlüssel zur Quantengravitation. Außerdem: Eine Revolution des Bauens? Carbonbeton benötigt im Vergleich zu Stahlbeton nur einen Bruchteil des Materials.

Gehirn&Geist – Multiple Persönlichkeit: Was hinter der dissoziativen Identitätsstörung steckt

Manche Menschen scheinen verschiedene Ichs in sich zu tragen, die im Wechsel die Kontrolle über den Körper übernehmen – mit jeweils eigenem Alter, Namen und Geschlecht. Unsere Experten, die zu dissoziativen Phänomenen forschen, stellen die wichtigsten Fakten zur »Multiplen Persönlichkeit« vor. Ergänzend dazu geht die Psychologin Amelie Möhring-Geisler der Frage nach, ob rituelle Gewalt in der Kindheit gezielt Persönlichkeitsspaltungen herbeiführt. In dieser Ausgabe beginnt zudem eine neue Artikelserie zum Thema »Long Covid und ME/CFS«. Im Interview spricht Carmen Scheibenbogen von der Berliner Charité über Ursachen von ME/CFS, den Versorgungsmangel in Deutschland und Hoffnung auf Medikamente. Darüber hinaus berichten wir über das Glücksparadox, das besagt: Je mehr wir dem Glück hinterherjagen, desto weiter entfernt es sich. Wir stellen das Thema psychotherapeutische Patientenverfügung vor, die im psychischen Krisenfall eine große Hilfe sein kann, sowie die noch immer rätselhafte Schmerzerkrankung Fibromyalgie, über deren Ursachen noch viel spekuliert wird.

Sterne und Weltraum – Raumzeit: Experimente zur Quantennatur

Die Relativitätstheorie Albert Einsteins ist das Meisterwerk zur Beschreibung der Schwerkraft. Seit Jahrzehnten steht aber die Frage im Raum, ob die Gravitation auf submikroskopischen Längenskalen modifiziert werden muss. Gibt es quantenhafte Austauschteilchen, die Gravitonen? In unserem Titelbeitrag stellen wir Überlegungen vor, wie man experimentell eine Quantennatur der Raumzeit testen könnte. Im zweiten Teil unseres Artikels zur Urknalltheorie beleuchten wir alternative Ansätze zur Dunklen Energie: das Local-Void- und das Timescape-Modell. Außerdem: Teil zwei unserer Praxistipps für die Astrofotografie mit dem Smartphone – Mond und Planeten im Fokus, die Ordnung im Chaos des Dreikörperproblems und woher stammen erdnahe Asteroiden?

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.