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Lasst uns spielen!

Computerspielen wird häufig nachgesagt, sie machen blöde und süchtig. Der Kommunikationswissenschaftler Mario Donick räumt mit solchen Vorurteilen auf und präsentiert eine differenzierte Analyse des virtuellen Spielekosmos.

Während des Lockdowns wurde das Internet zu einer Art Ersatzstadt. In Onlinegames fanden Graduiertenfeiern, Hochzeiten und Konzerte statt. Längst sind es nicht nur Nerds, die den virtuellen Spielekosmos bevölkern, sondern auch Aktivisten. Zum Beispiel verabredeten sich Bürger aus Hongkong im April 2020 auf einer Privatinsel des Computerspiels »Animal Crossing« zu einer spontanen Kundgebung, bei der sie mit Köchern auf die pekingtreue Regierungschefin Carrie Lam eindroschen.

Virtuelle Welt für Aktivisten

Der Kommunikationswissenschaftler Mario Donick hat nun ein Buch geschrieben, das dieses virtuelle Universum untersucht. Computerspiele, so die zentrale These von »Let's play!«, erlauben es, unser eigenes Tätigsein zu entdecken und dabei mehr über uns selbst zu erfahren.

Inzwischen gibt es ein breites Spektrum an Computerspielen: Rollen-, Strategie- und Aufbauspiele, Wirtschafts-, Fahrzeug- und Berufssimulationen, Sport- und Survivalspiele, Shooter, Adventuregames und so weiter. Die Übergänge sind teilweise fließend, etwa bei dem überaus beliebten »Fortnite« mit mehr als 350 Millionen Nutzern weltweit, das eine Mischung aus Shooter und Survivalspiel ist. Manche Games stecken voller Rätsel und Problemszenarien, andere sind wiederum so interaktionsarm, dass man fast von einem Film sprechen könnte.

Donick unterscheidet mit dem Kulturwissenschaftler Christian Huberts zwischen »kalten« und »heißen« Computerspielen. Während man in Letzteren häufig Hilfestellungen bekommt und sehr nah am Skript agiert, sei man in einem kalten Spiel stärker auf sich allein gestellt. Die Unterteilung hängt nicht zwangsläufig vom Entwickler ab, sondern häufig von der Spielweise des Nutzers. So könne man etwa »Grand Theft Auto IV« (2008) auch als kalt wahrnehmen, wenn man alle Missionen erfüllt hat und das »freie Wandern« als einzige Beschäftigung bleibt. Dabei ist man natürlich nie ganz frei, denn man muss sich an die programmierte Spielmechanik halten. Im Gegensatz zu einem physischen Schachbrett lassen sich die Spielfiguren im Rechner nicht einfach umwerfen.

Häufig hört man, der Konsum von Computerspielen verblöde, mache süchtig und sei obendrein antisozial. Wenn ein Nerd stundenlang in seinem dunklen Kämmerlein zocke, könne man nicht von Kommunikation sprechen. Der Autor widerspricht diesem Argument: »Selbst wenn der eigentliche Akt des Spielens zu Hause vor einem Schreibtisch oder auf der Couch stattfindet, teilen wir unsere Erlebnisse doch mit anderen Menschen. Wir reden über das Spiel, wir schreiben darüber, wir fragen andere Menschen um Rat, wir schauen uns auf YouTube oder Twitch an, wie andere Personen spielen und hinterlassen dort unsere Kommentare«. In einem Online-Rollenspiel wie »World of Warcraft« oder »The Elder Scrolls« müsse man beispielsweise mit einer zufällig zusammengewürfelten Gruppe versuchen, Angriffe weiterer Spieler auf einen gefährlichen Ort voller Monster abzuwehren. Ohne Kommunikation ließen sich solche Probleme nicht lösen. Auch in Flugsimulationen wie »X-Plane 11« sei es unerlässlich, sich auszutauschen: mit Mitspielern, Flugzeugen oder dem Tower am Boden.

Der Autor räumt mit einigen Vorurteilen auf, etwa der pauschalen Behauptung, Ballerspiele würden Menschen zu Killern machen. Donick nuanciert an dieser Stelle aber auch. Zwar sei das Töten in Computerspielen immer fragwürdig, die Ausrede »es ist nur ein Spiel« lässt er nicht gelten. Andererseits vertritt er die Meinung, man solle Computerspiele, in denen Gewalt angewendet oder gar getötet wird, trotzdem spielen dürfen und Spaß daran haben. Der Kommunikationswissenschaftler weist bei seiner Argumentation vor allem auf den Symbolcharakter des virtuellen Tötens hin. Grundsätzlich sei es dabei egal, ob die zu vernichtenden Gegner abstrakte Icons, niedliche Comicfiguren oder fotorealistische Menschen seien. Selbst Schach verweise symbolisch auf echtes Töten, wenn der Bauer vom gegnerischen Springer geschlagen werde.

Zwar macht es einen Unterschied, ob man die Dame im Schach bedroht oder wie in »Grand Theft Auto« überfällt. Trotzdem hält der Autor nichts davon, Computerspiele, in denen Gewalt vorkommt, pauschal zu verurteilen: »Wenn wir ein Computerspiel spielen, in dem wir töten müssen, dann reproduzieren wir damit zwar (…) gesellschaftliche Formen, die das Töten unter Umständen als gerechtfertigt erscheinen lassen. Aber wenn wir dabei ins Nachdenken kommen – oder auch nur ein ungutes Gefühl haben –, kann daraus ein kritisches Bewusstsein entstehen.«

Letztlich werden in Computerspielen jene Themen behandelt, die uns auch in die Realität beschäftigen: Krieg, Frieden, Freiheit, Unterdrückung oder Gesellschaftsformen wie Kapitalismus und Kommunismus. »In gewisser Weise spielen wir in Computerspielen unsere Welt nach«, resümiert der Autor.

Donick ist ein aufschlussreiches und differenziertes Buch über Computerspiele gelungen. Nach der Lektüre hat man große Lust, in »Sim City« eine Modellstadt aufzubauen oder mit dem »Flight Simulator« entlang der US-amerikanischen Ostküste zu fliegen.

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