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Geisel der Politik

Das Beispiel der Papsttochter Lucrezia Borgia zeigt, wie schon vor 500 Jahren Fake News in die Welt gesetzt wurden, um Menschen in Verruf zu bringen.

Wie wird man einer Frau gerecht, die ihre Bekanntheit vor allem ihrem schlechten Ruf verdankt? Lucrezia Borgia (1480-1519), uneheliche Tochter des machtbewussten Borgia-Papstes Alexander VI. und Schwester des skrupellosen Cesare Borgia, wird gemeinhin als verführerisch, zügellos und über Leichen gehend beschrieben. Doch was steckt hinter dem Bild der Femme fatale, die als Giftmischerin in die Geschichte einging und sogar mit ihrem Vater geschlafen haben soll? Entsprechen diese Behauptungen den historischen Fakten?

Die Münchner Historikerin und Italienkennerin Friederike Hausmann geht diesen Fragen in ihrer äußerst lesenswerten Biografie auf den Grund. Dabei zeigt sie detektivischen Spürsinn, viel Einfühlungsvermögen und zeichnet ein sehr differenziertes Porträt Lucrezias und ihrer Zeit. Zwar gibt es Hausmann zufolge zahlreiche gesicherte Fakten über Lucrezia als Person, doch ist ihre Lebensgeschichte nur in einem größeren politischen Rahmen zu verstehen. Indem die Autorin Lucrezia in die Welt des frühneuzeitlichen Italien einbettet, gelingt es ihr, den Nebel um diese »unseligste Frauengestalt der modernen Geschichte« (Ferdinand Gregorovius, 1821-1891) zu lichten und zur historischen belegbaren Person vorzustoßen. Für Hausmann steht fest: Alexandre Dumas und Victor Hugo haben zwar postum dazu beigetragen, die Papsttochter zu dämonisieren, doch ihr unvorteilhafter Ruf entstand bereits zu ihren Lebzeiten.

Mitgefangen, mitgehangen

Kompetent zeigt die Autorin auf, wie politische Machtkämpfe, Intrigen und korrupte Machenschaften im Hause Borgia dem Image der Renaissancefürstin schadeten. Erst recht, da ihr Vater ein Papst war, der das Amt zur hemmungslosen Bereicherung seines Klans missbrauchte, Verwandte mit Kardinalshüten versorgte und die Borgias ebenso gekonnt wie skrupellos zu einer der mächtigsten Familien Europas machte. Wer in einem solchen familiären Umfeld aufwuchs und sozialisiert wurde, so Hausmann, sei unweigerlich – mitgefangen, mitgehangen – in kollektive Geiselhaft genommen worden.

Seite um Seite entkräftet Hausmann das Zerrbild von der skandalumwitterten Papsttochter, indem sie auf Ungereimtheiten hinweist und hinterfragt, wer aus entsprechenden Gerüchten hätte Nutzen ziehen können. So geht der Vorwurf des Inzests auf gekränkte männliche Eitelkeit zurück: Die Ehe mit Lucrezias erstem Ehemann, Giovanni Sforza, wurde wegen Impotenz geschieden. Und auch die Anwürfe hinsichtlich des sündhaften Lebens der Renaissancefürstin erweisen sich bei Licht besehen als Fake News, gestreut in der Absicht, dem Papst durch die Verleumdung seiner Tochter zu schaden. Bot doch das lasterhafte Leben des Borgia-Papstes genügend Stoff, um Lucrezia »als Projektionsfläche für Anschuldigungen aller Art« zu missbrauchen.

Hausmanns Buch belegt am Beispiel Lucrezias, unter welch erniedrigenden Umständen Frauen im Zeitalter der Renaissance lebten, in dem der weiblichen Selbstentfaltung enge Grenzen gesetzt waren. Lucrezia, mit 39 Jahren dreimal verheiratet und Mutter von acht Kindern, teilte das Los vieler Zeitgenossinnen, ihr Leben fremdbestimmt zu verbringen. Von den Vätern zwangsverheiratet, um die Macht der Familie zu mehren, und im Eheleben auf die Reproduktion bevorzugt männlichen Nachwuchses reduziert, waren die Handlungsspielräume der weiblichen Familienmitglieder weithin eingeschränkt.

Erst in ihrem zweiten Lebensabschnitt konnte sich Lucrezia als Herzogin von Ferrara stärker verwirklichen und zu einer eigenständigen Persönlichkeit heranwachsen. Hausmann gelingt es, Aspekte aus Lucrezias Leben ans Tageslicht zu bringen, die bislang wenig Beachtung fanden: ihr Engagement als Förderin der Künste und Wissenschaften, als umsichtige Unternehmerin und als Mutter Teresa für Arme und Kranke. Als sie 1519 im Kindbett starb, war sie eine hoch geachtete Familien- und Landesmutter.

Wer verstehen will, wie Lucrezia Borgia zu der Figur werden konnte, als die sie noch heute dargestellt wird, sollte Hausmanns fundierte und anschaulich geschriebene Biografie zur Hand nehmen.

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