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Vom Können zum Wollen

Die Art der Begabung sagt wenig darüber, in welche Richtung sich unsere Interessen entwickeln, meint der Persönlichkeitspsychologe Aljoscha Neubauer.

Haben Sie einen Beruf, der Ihnen entspricht? Und was genau heißt das? Der Grazer Persönlichkeitspsychologe Aljoscha Neubauer erläutert in diesem Buch, warum wir bei der Karriereplanung zwischen Talenten auf der einen Seite und persönlichen Interessen auf der anderen unterscheiden sollten. Denn die Art der Begabung – ob man etwa auf sprachlichem, räumlichem oder mathematischem Gebiet Potenzial besitzt – sage oft wenig darüber aus, in welche Richtung sich unsere Vorlieben und Interessen entwickeln. Mitunter komme es hier zu einer bedenklichen Diskrepanz.

Neubauers Diagnose, die Eignung und die Neigung vieler Menschen passten nicht zusammen, begründet er mit dem schwachen statistischen Zusammenhang solcher Persönlichkeitsmaße in empirischen Studien. Die Korrelation (kurz: r) erreiche meist gerade mal Werte um 0,3. Allerdings gilt ein solches Korrelationsmaß in der Persönlichkeitspsychologie vielfach schon als solide. Die Autoren der von Neubauer zitierten Überblicksstudien deuten ihre Resultate folglich auch anders. Sie sprechen von »substanziellen Zusammenhängen« zwischen Begabungen und beruflichen Anforderungen und erkennen Cluster, in denen beides konvergiert: ein künstlerisch-kulturelles, ein soziales, ein wissenschaftlich-mathematisches und ein konventionelles (womit etwa von Routinen geprägte Tätigkeiten gemeint sind). Ein Fachartikel von 2015 bestätigte zudem: Interessen und Talente entwickeln sich »im Tandem« und erreichen mit zunehmendem Alter Korrelationswerte bis zu 0,47. Auffällig ist dabei, dass etwa soziale Berufe kein so spezifisches Talentprofil aufweisen wie Jobs im technischen oder im kulturellen Bereich.

Ist das Glas zu zwei Dritteln voll oder zu einem Drittel leer?

Nach Neubauers eigener Rechnung klaffen, wenn r 0,3 beträgt, bei rund 35 Prozent der Menschen das Können und die Interessen auseinander. Ist das nun viel oder wenig? Immerhin scheinen die anderen zwei Drittel ja eine ordentliche Passung gefunden zu haben. Zudem sind viele Gründe denkbar, weshalb eine Diskrepanz zwischen Eignung und Neigung gar nicht so schlimm sein muss. Mancher wächst in seine Aufgaben hinein, weshalb ältere Arbeitnehmer im Schnitt mehr Übereinstimmung zeigen als Jobanfänger. In einigen Berufen ist zudem Diversität gewünscht, damit nicht nur hoch begabte Fachidioten im Team sitzen. Und oft sind die Talente, die ein Job heute erfordert, morgen schon nicht mehr in gleicher Weise gefragt. In der »Arbeitswelt 4.0« wandeln sich viele Berufsbilder rasant.

Auch spielt die Passung zwischen Anforderungen und Begabung, wie Neubauer selbst betont, vor allem für den beruflichen Erfolg eine Rolle, weniger für die Zufriedenheit. Wer für seinen Job wie gemacht ist, steigt zwar eher auf und verdient im Schnitt besser. Das macht ihn aber nicht unbedingt glücklicher mit dem, was er tut. Geld und Prestige sind eben nicht alles. Von einer absolut notwendigen Passung kann also kaum die Rede sein.

Wird hier ein Problem konstruiert, damit die Lösung umso attraktiver erscheint? Denn was empfiehlt der Psychologe, um der Diskrepanzfalle zu entgehen? Klar: das Ausloten der persönlichen Begabungen! Hierfür hält Neubauers Buch eine Reihe von Selbsttests bereit. Diese helfen dabei, das eigene Selbstbild zu eruieren (»Ich bin gut darin, logisch zu denken«). Ob das jedoch wirklich stimmt, steht auf einem anderen Blatt. Denn wie der Autor darlegt, fällt es uns häufig schwer, unser Potenzial korrekt einzuschätzen. Die Urteile anderer sowie konkretes Ausprobieren sind hierfür unentbehrlich.

Neubauers Buch ist nicht als Ratgeber, sondern als Sachbuch lesenswert. Der Autor gewährt tiefe Einblicke in die Intelligenz- und Persönlichkeitsforschung und scheut nicht davor, schwierige Begriffe wie Effektstärke oder Validität zu verwenden. Die vielen Spiegelstriche im Text unterbrechen zwar häufig den Lesefluss, aber das tut der Sache inhaltlich keinen Abbruch. Auch wenn die Diskrepanzfalle womöglich ein Mythos ist, dürfte es für viele Leser schon aufschlussreich sein, dass Begabungen und Interessen zwei Paar Stiefel darstellen. Neben Befunden der Persönlichkeitspsychologie liefert der Band Anregungen, wie man das eigene Können und Wollen zumindest einander annähern kann.

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