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Schwer zu vermittelnde Ästhetik

In den zurückliegenden Jahrzehnten sind viele Bücher erschienen, die darauf abzielen, Mathematik "unter die Menschen zu bringen". Dieses Werk des engagierten und verdienten Mathematiklehrers Heinz Klaus Strick möchte das auch; es ist laut Untertitel "für Menschen zwischen 9 und 99 Jahren" geschrieben. Es unterscheidet sich aber von vielen anderen populärwissenschaftlichen Publikationen, indem es weder die Geschichte der Mathematik erzählt noch erklärt, warum diese entstanden ist – und auch nicht Anwendungen derselben vorstellt. Im Grunde führt es uns auch nicht an das Fach heran. Das Buch setzt vielmehr voraus, dass Mathematik einfach da ist, und präsentiert uns diese. Vom ersten Kapitel an geht der Autor sofort "medias in res", wenn er Definitionen (worüber reden wir?), Sätze (was wissen wir?) und – in beschränktem Umfang – Beweise beziehungsweise Beispiele (warum ist das richtig?) behandelt. Insofern ist sein Werk ein "richtiges" Mathematikbuch.

"Mathematik ist schön" untergliedert sich in 17 weitgehend unabhängige Kapitel. Das hat den Vorteil, dass man die Abschnitte nicht nacheinander durcharbeiten muss, sondern direkt zu dem Teil springen kann, der einen am meisten interessiert. Beim Durchblättern stechen die unglaublich vielen bunten Bilder ins Auge. Auf fast jeder Seite findet man eines, auf manchen Seiten mehrere. Das passt zum behandelten Stoff, der großteils geometrisch orientiert ist. In vielen Kapiteln geht es um Rechtecke, Quadrate, Rauten und Kreise als Grundformen, aus denen neue, komplexe Figuren zusammengesetzt werden. Auch mit Flächenzerlegungen beschäftigt sich Strick. Zudem deutet er das Rechnen mit Zahlen oft geometrisch oder illustriert es mit Diagrammen. Es handelt sich durchgängig um substanzielle und gute Mathematik, die klar aufbereitet wird.

Unter erfahrener Anleitung

Manche Kapitel sind sehr ausführlich und enthalten umfangreiches Material; mich haben die Zerlegung von Rechtecken (Kapitel 2), die Augensummen beim Würfeln (Kapitel 12), die Potenzen von natürlichen Zahlen (Kapitel 16) und die zahlreichen Beweise des Satzes des Pythagoras (Kapitel 17) beeindruckt, in denen ich viel Neues gelernt habe. Andere Kapitel (Wiegen im 3er-System, Satz von Pick) könnten durchaus noch weiter gehen.

Ich empfinde das Buch wie eine Wanderung unter Leitung eines erfahrenen Bergführers, dem man sich anvertrauen muss. Er kennt den Weg, er weiß, was uns erwartet, er weiß auch, wann die Tour zu Ende sein wird. Vorab auf Highlights oder schwierige Abschnitte hinzuweisen, ist für ihn nicht nötig, denn seine Kenntnis sagt ihm: Wenn wir ihm vertrauen, wird nichts passieren – und wir werden hingerissen sein. Man spürt an jeder Stelle, dass der Autor überzeugt, ja begeistert von seiner Materie ist, dass er den Stoff beherrscht und uns zeigen möchte, wie es geht. Das Buch ist überall interessant, allerdings überall in gleichem Maß. Es gibt keine extrem schwierigen Stellen, aber auch keinen Abschnitt, in dem man einfach schmökern kann oder der gar reflektierend auf das bisher Erreichte zurückschaut.

Um im Bild der Bergtour zu bleiben: Gewisse Voraussetzungen muss man als Wanderer schon mitbringen. Man muss sich mitnehmen lassen, man braucht Ausdauer und die Bereitschaft, auch schwierige Strecken zu bewältigen – und man benötigt "gutes Schuhwerk". Der Autor nutzt fachübliche Darstellungsformen und selbstverständlich das Instrument der Formeln und Gleichungen; sein Buch enthält schätzungsweise mehr als 1000 von ihnen mit zum Teil sehr vielen Komponenten. Als Leser(in) muss man deshalb mit Variablen souverän umgehen können und eine große einschlägige Routine besitzen. Man darf keine Angst haben vor Potenzen und Wurzeln, vor komplexen Zahlen und Kehrwerten, vor sin und cos, vor mod und lim, vor π und φ und μ und so weiter. Die sprachlichen Formulierungen sind durchweg sachlich, oft im Passiv und mitunter durchaus kompliziert.

Ästhetik der Mathematik

Der Titel des Werks stößt sicher nicht auf ungeteilte Zustimmung. Dass Mathematik schön sei, wird von Mathematikern zwar als selbstverständlich empfunden, von vielen anderen aber als Provokation aufgefasst. Insofern ist es durchaus richtig, die Schönheit des Fachs offensiv vorzustellen. Aber: Was bedeutet das Attribut in diesem Zusammenhang? Ist Mathematik tatsächlich schön, und wenn ja, worin zeigt sich das? Darüber gibt unter Mathematiker(inne)n eine durchaus differenzierte Debatte – siehe etwa "Ästhetische Erfahrung Mathematik: Über das Phänomen schöner Beweise und den Mathematiker als Künstler" (Universitätsverlag Siegen, 2013).

Inwiefern Mathematik schön ist, erklärt der Autor nicht. Sind es die vielen bunten Bilder (im Buch weit über 1000)? Sind es die Formeln? Oder die Sätze, die Beweise? Die Leser bekommen hierzu keinen Hinweis. Viele Mathematiker erleben Schönheit in den Aha-Momenten bei mathematischen Argumenten (Beweisen). Leider gelingt es dem Werk nicht, diese entscheidenden Momente herauszuarbeiten und entsprechend zu "inszenieren". Ich persönlich bin der Überzeugung, dass Schönheit in der Mathematik – wie auch in der Kunst – nur dann erlebt werden kann, wenn die Präsentation von Mathematik mit einer "Schule des Sehens" einhergeht. Das kann (und will?) dieses Buch nicht leisten.

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