»Mehr als nur Atome«: Ist der Mensch Physik?
Sind wir mehr als nur ein Haufen Atome? Das ist die Leitfrage, mit der uns die in Frankfurt forschende theoretische Physikerin Sabine Hossenfelder auf eine Reise zu den großen Rätseln der Physik einlädt. Kann man das Bewusstsein als emergentes Phänomen verstehen? Entsteht es also lediglich aus dem komplexen Zusammenspiel einer sehr großen Menge an kleineren Komponenten? Oder benötigt man gar die eigenartig anmutenden Gesetze der Quantenphysik, um zu verstehen, wie Bewusstsein entsteht? Letztere Idee vertritt zum Beispiel der Physik-Nobelpreisträger Roger Penrose (geb. 1931), auch wenn die experimentelle Evidenz dazu fehlt.
Die Autorin gliedert ihr Buch in neun Kapitel, zu denen sie noch drei Interviews mit anderen Forschern stellt (unter anderem auch mit Roger Penrose). Kapitel eins handelt davon, dass in einer deterministischen Welt Vergangenheit und Zukunft fest miteinander verknüpft sind, so dass es keinen klaren Anhaltspunkt gibt, was das Jetzt sein könnte. Albert Einstein (1879–1955) sprach in diesem Zusammenhang von einer »hartnäckigen Illusion«. Das zweite Kapitel beschreibt die Entstehung des Universums. Insbesondere weist Hossenfelder darauf hin, dass nicht alle Ideen, die man zu der Frage nach der Natur des Urknalls liest, durch Beobachtungen unterscheidbar sind. Dann ist es also eine Geschmacksfrage, welches Weltbild man bevorzugt.
Die nächsten beiden Kapitel behandeln das Zusammenspiel großer Mengen an Teilchen. Zum einen geht es natürlich darum, wie aus dem Gesetz der Zunahme der Entropie ein effektiver Zeitpfeil entsteht. Zum anderen aber auch um Emergenz, dass also neue, kollektive Muster auftreten können, wenn man viele wechselwirkende Komponenten hat. Nach derzeitigem Wissensstand spricht nichts dagegen, dass Bewusstsein ein emergentes Phänomen ist. Und da das die Erklärung mit den wenigsten Annahmen ist, bevorzugt die Autorin sie.
Kapitel fünf beschreibt die Paradoxa des quantenmechanischen Messprozesses. Die Autorin ist aber skeptisch, ob die Idee richtig ist, dass sich bei jeder Quantenmessung das Universum aufspaltet, und so eine wahnwitzige Zahl an Multiversen existiert. Denn ist das nicht eine viel kompliziertere Erklärung, als einfach das Zufallselement zu akzeptieren? Im sechsten Abschnitt diskutiert Hossenfelder, wie der freie Wille, den Menschen empfinden, mit der deterministischen Physik zusammenpasst. Noch deutlicher als bei der Frage nach dem Bewusstsein bewegt sich der Text hier auf philosophischem Terrain, und so ist es vielleicht auch nicht verwunderlich, dass die Autorin zeigt, wie unscharf die Definition des Begriffs »freier Wille« ist, so dass kein direkter Widerspruch bleibt.
Weiter geht es mit einem Kapitel über das anthropische Prinzip – ob das Universum also so beschaffen ist, wie es ist, da wir ja offensichtlich darin leben. Etwas ungewöhnlich ist die Frage in Kapitel acht: Denkt das Universum? Und schließlich folgt noch ein Kapitel über die Vorhersagbarkeit von menschlichem Verhalten, was natürlicherweise auch eine Diskussion über künstliche Intelligenz beinhaltet. Ein Abschnitt über ChatGPT fehlt aber, denn die englische Originalausgabe des Buches ist bereits 2022 erschienen.
Hossenfelders Text ist anspruchsvoll, und den Argumenten ist nicht immer leicht zu folgen. Doch die aufzubringende Konzentration lohnt sich, denn der rote Faden, der sich durch das gesamte Buch zieht, ist eine gute Maxime, um Gehörtes oder Gelesenes einzuordnen: Die Autorin unterscheidet säuberlich zwischen Fakten, die experimentell belegt (oder zumindest theoretisch belegbar) sind, und dem, was plausible Geschichte, Spekulation, Mythos oder Religion ist. Die experimentellen Grundlagen kommen für meinen Geschmack etwas zu kurz – denn schließlich bildet das die Basis des Realitätsbegriffs der theoretischen Physikerin. An manchen Stellen scheint sie einfach davon auszugehen, dass die Leser ein Physikstudium genossen haben.
Dem Titel des Buches hätte ich noch ein Fragezeichen angehängt. Denn so klingt es, als ob das Buch die These vertritt, dass das Menschsein mehr sei als nur eine komplexe Ansammlung von Atomen. Aber das ist ja gerade die Frage, um die es geht: Sind wir mehr als nur Atome?
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