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Die Mensch-Erde-Beziehung im Blick

Zwei Forschende betonen in ihrem Buch die Kraft des Einzelnen, um Veränderungen anzustoßen.

Wir wollen »keine Aussteiger werden, in Ökodörfer ziehen und unser Leben radikal umkrempeln«, schreiben Thomas Bruhn und Jessica Böhme im Vorwort ihres Buchs. Aber gleichzeitig auch nicht »untätig darauf warten, dass sich irgendwann das System ändert, damit wir endlich nachhaltig leben können«.

Das Dilemma, das der Physiker und die Wirtschaftsingenieurin und Journalistin schildern, werden die meisten nur zu gut kennen: Oft erscheint das eigene Bemühen (etwa das Einkaufen im Biomarkt oder ein Flugverzicht) mikroskopisch klein und unbedeutend, während wir, wie es die Autoren ausdrücken, doch alle wissentlich Technologien und Materialien benutzen, die die Lebensgrundlagen unserer Erde ausbeuten. Wie können wir es also schaffen, als Einzelne große Veränderungen hin zu einer nachhaltigen Welt anzustoßen?

Im Kern geht es im Buch darum, welche Kraft jeder Einzelne – durch das Geflecht seiner Beziehungen – hat, um ganze Systeme zu verändern. Das Werk richtet sich an alle, die sich für Nachhaltigkeit oder für die Wirkungskraft von Beziehungen – zu sich selbst, zu den Mitmenschen sowie zur Umwelt (im Buch auch Mitwelt genannt) – interessieren.

Zur Nachhaltigkeit anregen

Die beiden Wissenschaftler vom Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung IASS in Potsdam möchten herausfinden, wie Veränderungen im Denken und Handeln angestoßen werden können, um die Zukunft achtsamer und kooperativer zu gestalten. Dabei verfolgen sie einen interdisziplinären Ansatz, der auf den zweiten Blick schon im Buchcover ersichtlich ist. Es verdeutlicht clever Perspektiven der Soziologie, Philosophie, Systemtheorie, Neurowissenschaft, Transformations-, Erdsystemforschung, Ökonomie und Psychologie zu der Frage, wie eine nachhaltige Zukunft gelingen kann.

Als Fundament aller weiterer Überlegungen führen Bruhn und Böhme in die Systemtheorie und die moderne Komplexitätsforschung ein. Sie erklären, welchen Kernprinzipien komplexe Systeme wie das Erdsystem oder das System Nachbarschaft oder Familie folgen. Um ihre Gedankengänge zu verstehen, muss man sich durchaus konzentrieren. Doch es hilft, dass die beiden zentrale Erkenntnisse regelmäßig in einem Kasten zusammenfassen und anschauliche, aus dem Leben gegriffene Beispiele liefern. So beschreiben sie das Prinzip der Selbstorganisation eindrücklich am Beispiel eines neuen Trampelpfads in einem Park, der entsteht, weil Menschen den für sich bequemsten Weg zwischen zwei Teilen der Anlage suchen. Dass die Autoren unter Beziehungsmustern gewisse Typen von Beziehungen in Systemen verstehen, die immer wieder auftauchen, wird jedoch erst an späterer Stelle erklärt. Erst dann wird ersichtlich, dass sich das Buch mit dem Untertitel »Was Nachhaltigkeit mit unseren Beziehungen zu tun hat« nicht nur zwischenmenschliche Beziehungen behandelt. Menschheit und Erde stehen Bruhn und Böhme zufolge ebenfalls in einem gemeinsamen Beziehungssystem.

Die beiden schreiben in klaren Worten, was die Erkenntnisse der Systemtheorie für uns Menschen bedeuten: Wir seien keine unabhängigen, autonomen Individuen, die berechnen können, wie sich klimafreundliches Essen oder Reisen auswirkt. Stattdessen seien wir mit allem eng verwoben: mit der Menschheit, mit allen anderen Lebewesen und sogar mit Rohstoffen und Materialien. Menschheit und Natur bildeten ein gigantisches Miteinander, ein gekoppeltes Mensch-Erde-System.

In den darauf folgenden Kapiteln stehen Fragestellungen der Psychologie im Vordergrund. Leider sinkt damit die empirische Fundiertheit der Kernaussagen. Als »mentale Paradigmen« beziehungsweise nichtnachhaltige Beziehungsmuster der Gesellschaft werden Nützlichkeit, Angst und Sinnleere aufgeführt. Da die Änderung unserer Beziehungsmuster auch eine Veränderung in uns selbst bedeutet und umgekehrt, versuchen Bruhn und Böhme weiter zu beschreiben, wie Werte, Identität und Weltanschauung »unser persönliches Sein« beeinflussen. Doch statt sich auf bekannte psychologische Theorien wie die Hypothesentheorie der sozialen Wahrnehmung (Bruner, 1951), die Theorie der sozialen Identität (Tajfel, 1982) oder auf das Konzept von Wertvorstellungen (Schwartz, 1994) zu beziehen, führen die Autoren bei ihrer Argumentation unscharfe, bedingt stringente Erklärungen an. Literaturangaben verwenden sie nur so vereinzelt, dass es nicht möglich ist, die Kernaussagen zu prüfen. Auch bei den anschließend erläuterten sechs Grundmustern des »zukünftigen Seins« bleibt offen, auf welcher theoretischen oder empirischen Basis sie beruhen. Das Gleiche gilt für die von den Autoren aufgestellten drei Kernmuster lebendiger Beziehungen (Authentizität, Kooperation und Kreativität). Stattdessen hätten sie die Selbstbestimmungstheorie von Ryan und Deci (2000), eine wissenschaftlich fundierte Theorie zu psychologischen Grundbedürfnissen (Kompetenz, Autonomie, soziale Eingebundenheit), berücksichtigen können.

Interdisziplinärer Rundumschlag mit originellen Ideen

Trotz der argumentativen Lücken zu psychologischen Fragen gelingt es dem Werk, einen spannenden interdisziplinären Rundumschlag zum Thema Nachhaltigkeit und Beziehungen zu leisten. Das Buch weckt Zweifel am anthropozentrischen Weltbild, offenbart neue, originelle Gedanken und lädt durch Fragen dazu ein, das eigene Erleben und Verhalten sowie das eigene Beziehungsgeflecht genauer unter die Lupe zu nehmen. Mir hat es verdeutlicht, was im Alltag häufig in den Hintergrund gerät: Wir Menschen sind nur ein kleiner Teil eines größeren Ganzen, ein Teil aller Lebendigkeit auf der Erde. Wir können nur in Kooperation und Verbundenheit mit der Welt existieren. Das Werk kann dazu anregen, mit einem neuen Selbstverständnis durch das Leben zu gehen: in Verbundenheit mit sich selbst, mit der Menschheit und der Natur.

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