Direkt zum Inhalt

Woher die Europäer kommen

Warum in jedem von uns noch ein wenig Neandertaler steckt.

Während einer familiären Trauerfeier erkannte Karin Bojs, wie wenig sie eigentlich über ihre Herkunft weiß. Daraufhin begab sich die Wissenschaftsjournalistin auf eine Spurensuche nach ihren Verwandten und dem Ursprung jedes Europäers. Gestützt auf die Erkenntnisse der Genforschung, lernte sie dabei nicht nur mehr über sich selbst und ihre Familie, sondern auch über die Verwandtschaftsbeziehungen der Europäer, die sie bis in die Steinzeit zurückverfolgen konnte. Dafür reiste die Autorin durch ganz Europa zu bedeutenden archäologischen Stätten und in modernste Labors, befragte zahlreiche Wissenschaftler und ließ sogar ihre eigene DNA untersuchen. Die Erfahrungen, die sie dabei machte, hat sie in diesem Buch niedergeschrieben.

Analysen uralter DNA haben gezeigt, dass Vertreter des Homo sapiens und des Homo neanderthalensis, die damals koexistierten, erstmals vor 54 000 Jahren im Nahen Osten vermutlich gemeinsam Kinder zeugten. Diese »Trollkinder« brachten Erbanlagen der Neandertaler wahrscheinlich – wenn auch nur in geringem Umfang – ins Erbgut der heute lebenden Europäer ein, obwohl die Neandertaler später ausstarben (woran der moderne Mensch wohl eine Mitschuld trägt). Genetische Studien hätten, so Bojs, zudem belegt, dass die Menschen vor rund 10 000 Jahren verbreitet blaue Augen sowie dunkle Haut und Haare hatten, was heute eine sehr seltene Kombination ist.

Uralter Schneckenhaus-Schmuck

Bei ihren Reisen zu bedeutenden Grabungs- und Fundstätten lernte die Autorin die ältesten Musikinstrumente der Welt ebenso wie berühmte steinzeitliche Kunstobjekte kennen. Dazu zählen Perlen aus Mammutzähnen, Ketten aus Schneckenhäusern und zahlreiche Höhlenmalereien. Auch Haustiere, schreibt sie, habe es in der Steinzeit vermutlich schon gegeben, wie archäologische Funde in Form von Tierskeletten als Grabbeigaben belegten. Hunde könnten als Wachhunde, Jagdgehilfen, Transportmittel oder auch als Fleischquelle für harte Zeiten gedient haben.

Vor etwa 10 000 Jahren begannen unsere Vorfahren mit Ackerbau und Viehzucht, die ältesten bekannten Bauerndörfer liegen im heutigen Syrien. Fachleute diskutieren, ob Einwanderer aus dem Nahen Osten die Landwirtschaft mit sich brachten oder ob die frühen Europäer sie selbst entwickelten. DNA-Analysen deuteten eher auf das erste Szenario hin, meint Bojs, denn sie belegten: Das Erbgut der europäischen Bevölkerung stammt zu einem erheblichen Teil von Migranten aus dem Nahen Osten. Einwanderung hat in der Geschichte Europas demnach schon immer eine große Rolle gespielt. Vermutlich, so die Autorin, hätten indigene Wildbeuter und zugewanderte Bauern lange parallel gelebt, bis sich Erstere der sesshaften Lebensweise anpassten und beide Populationen allmählich verschmolzen.

Bojs besichtigte auch den wohl aufschlussreichsten Fund der europäischen Archäologie: den 5300 Jahre alten Gletschermann »Ötzi«. Er war wahrscheinlich Opfer eines Mordanschlags, und Analysen seines Darminhalts verraten uns, was er am Ende verzehrte. Sein letztes Mahl bestand demnach aus Weizen, anderer pflanzlicher Nahrung und Ziegenfleisch. Spuren von Arsen in seinem Körper lassen wiederum darauf schließen, dass er Kupfer schmiedete. Laut Sequenzierungen seiner DNA hatte er braune Augen, welliges Haar und vertrug keine Milch.

Essen, was verfügbar ist

Die Autorin kritisiert Modeerscheinungen wie die »Paläo-Diät«, eine kohlenhydratarme Ernährung, die sich angeblich an jener der steinzeitlichen Wildbeuter orientiert. Bojs meint dazu, unsere Vorfahren hätten sich in den zurückliegenden 100 000 Jahren beinahe den ganzen Globus erschlossen, und es habe bei ihnen nicht »die eine« Ernährungsweise gegeben, sondern der Speiseplan haben sich nach den jeweiligen örtlichen Bedingungen gerichtet.

Mittels der Sequenzierung ihres eigenen Genoms hat sich die schwedische Autorin auf die Suche nach ihrer eigenen Abstammungslinie gemacht. Insbesondere fragte sie sich, wie ihre Vorfahren nach Schweden kamen und wie viel Wikingerin in ihr steckt. Dank DNA-Test an ihrem Onkel erfährt Bojs, dass ihr Großvater in seiner Y-chromosomalen DNA bestimmte Marker besaß, die deutlich auf eine Wikingerherkunft hinweisen. Die Abstammungslinie ihrer Großmutter mütterlicherseits wiederum hatte ihren Ursprung in Schottland. Durch Recherchen in alten Kirchen- und Gerichtsbüchern verfolgte die Autorin die Geschichte ihrer Familie bis ins 17. Jahrhundert zurück. Dies alles sowie das Faktum, dass die Wikinger im 10. Jahrhundert regen Menschenhandel betrieben, lässt die Autorin vermuten, dass eine ihrer Vorfahrinnen mütterlicherseits als Sklavin auf einem Wikingerschiff nach Schweden kam.

Zusammenfassend betont die Autorin noch einmal, welch große Bedeutung Zuwanderungsbewegungen für Europa hatten, dessen Geschichte stets von Migration und Verschmelzung geprägt war. Sie beschreibt alte und neue Forschungsergebnisse und geht auf zahlreiche Themen rund um die Herkunft der Europäer ein. Anschaulich erörtert sie verschiedene wissenschaftliche Thesen und erklärt Fachbegriffe in einem eigenen Kapitel namens »DNA – Fragen und Antworten«. Leider fehlt dem Buch teilweise ein roter Faden, der die Einzelthemen verbindet, was es mitunter schwer macht, den Überblick zu behalten. Zudem erläutert die Autorin überwiegend bereits bekannte Erkenntnisse und fokussiert großteils auf die Bevölkerung Schwedens. Wer sich für Ahnenforschung, Genetik und Anthropologie interessiert, dem ist der Band trotzdem zu empfehlen.

Kennen Sie schon …

Spektrum - Die Woche – Europaparlament nimmt Renaturierungsgesetz an

In Straßburg wurde das weltweit erste Gesetz für eine umfassende Renaturierung geschädigter Ökosysteme verabschiedet. Was genau das für die europäische Landschaft bedeutet, lesen Sie in der aktuellen Ausgabe von »Spektrum – Die Woche«. Außerdem: was Cholesterin so gefährlich macht.

Spektrum Kompakt – Wandernde Tiere

Sie bleiben, bis die Jahreszeit kalt oder die Nahrung knapp wird: Zugvögel zieht es bekanntlich in warme Winterquartiere, doch auch Wale, Elefanten und sogar Plankton wechseln ihre Heimat.

Spektrum - Die Woche – Welche Psychotherapie passt zu mir?

Studien zufolge erkrankt jeder fünfte bis sechste Erwachsene mindestens einmal in seinem Leben an einer Depression. Doch wie finden Betroffene eine Therapie, die zu ihnen passt? Außerdem in dieser Ausgabe: Kolumbiens kolossales Problem, der Umgang mit Polykrisen und die Übermacht der Eins.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.