»Meister von Raum und Zahl«: Von Thales bis Gödel
Ein Buch, auf dessen Titelseite das berühmte Porträt David Hilberts abgedruckt ist, zieht die Aufmerksamkeit eines jeden Mathematikers auf sich – so mögen Autor und Verlag gedacht haben, als sie sich für das bekannte Foto des damals 50-Jährigen entschieden. Thomas Hellweg, zuletzt Professor für Wirtschaftsinformatik und Statistik an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/Holzminden/Göttingen, hatte diese Sammlung von 121 Kurzbiografien bedeutender Mathematiker bereits vor einigen Jahren veröffentlicht, damals in einem kleineren Verlag. Die von Springer nun neu gestalte Ausgabe dürfte vermutlich einen größeren Interessentenkreis erreichen – was dem Buch durchaus zu wünschen ist.
Hellweg bezeichnet im Vorwort den Inhalt als eine »Folge miteinander verwobener anekdotischer Kurzgeschichten […] kein Lehrbuch und kein Geschichtsbuch«. Sein Anliegen ist es, hierdurch die bei vielen Menschen durch »unsachgemäßen Unterricht« entstandenen »Mathematik-Phobien« aufzulösen und »ein Gefühl für die Faszination zu vermitteln, die die Mathematik auf ihre Jünger ausübt«. Diesem Anspruch wird der Autor größtenteils gerecht.
Für seine Sammlung hat Hellweg 121 Mathematiker ausgewählt, die alle bereits gestorben sind, und sie nach ihrem Geburtsdatum geordnet. Er beginnt bei Thales (*circa 624 v. Chr.) und endet mit Kurt Gödel (*1906). So nimmt er in Kauf, dass Mathematiker, die eng zusammengearbeitet haben und deren Schicksale miteinander verbunden waren, im Buch nicht aufeinanderfolgen. Die Beiträge sind kompakt: Einige umfassen noch nicht einmal zwei Seiten, der Abschnitt über Gödel und sein Ringen um die logischen Fundamente der Mathematik ist etwas mehr als sieben Seiten lang. Da die »Kurzgeschichten« grundsätzlich auf einer rechten Seite beginnen, gibt es auch etliche leeren Seiten im Buch.
Wenige Formeln und Grafiken
Die Beiträge beginnen in der Regel mit der Beschreibung der Herkunft, der ersten Lebensjahre und des schulisch-akademischen Werdegangs, dann folgen Informationen über die mathematischen Probleme und Themenfelder, mit denen sich die Porträtierten beschäftigt haben, und Anmerkungen dazu, wie diese einzuordnen sind.
Das Buch kommt mit vergleichsweise wenigen mathematischen Termen und Formeln aus, mit deren Hilfe historisch neu auftretende Begriffe erläutert werden sollen. Deren Auswahl erscheint aber nicht immer glücklich. Beispielsweise werden die sogenannten Fibonaccizahlen im Kapitel über Leonardo von Pisa untersucht, obwohl dieser sich mit ihnen gar nicht näher beschäftigt hat (deren Bedeutung wurde erst im 19. Jahrhundert entdeckt). Auch wird das Rechnen mit komplexen Zahlen im Beitrag über Cardano angesprochen, der hierüber mit Sicherheit nicht nachgedacht hat; die Cardanische Lösungsformel für kubische Gleichungen kommt hingegen nicht vor.
Das Werk enthält leider nur wenige grafische Elemente, obwohl es an etlichen Stellen einfacher gewesen wäre, einen Sachverhalt durch eine Abbildung oder mithilfe einer Tabelle zu veranschaulichen. Einige der Grafiken passen auch nicht zu den Stellen, an denen sie eingefügt sind, zum Beispiel der Graph der Sinusfunktion (!) im Abschnitt über al-Khujandi, wobei der Autor sogar selbst anzweifelt, dass dieser Mathematiker des islamischen Kulturkreises den Additionssatz für die Sinusfunktion entdeckt hat. Und: Michael Stifel (*1487) hat sich mit Sicherheit nicht mit dem Logarithmus der Fibonaccizahlen beschäftigt.
Generell scheut sich Hellweg nicht, komplexe Sachverhalte und Begriffe, die weit über die Inhalte der Schulmathematik hinausgehen, mit Worten zu beschreiben, darunter sogar Themen wie die Potenzreihenentwicklung und deren analytische Fortsetzung, Riemannsche Flächen oder Sylowsche Gruppen.
Gleichwohl bleibt ihm genügend Platz für die Darstellung der Lebensläufe der ausgewählten Mathematiker. Die »Kurzgeschichten« sind im Prinzip unabhängig voneinander lesbar, enthalten jedoch zwangsläufig eine Fülle von Querverweisen. Diese sind leider keine große Hilfe, denn an keiner Stelle des Buches ist angegeben, auf welcher Seiteman das entsprechende Kapitel finden kann; um gezielter suchen zu können, müsste man also das genaue Geburtsdatum der jeweiligen Person kennen. Manchmal hilft das am Ende des Buchs enthaltene Stichwortverzeichnis weiter, etwa wenn beim Begriff »Eulersche Polyederformel« auf das Kapitel über Euler verwiesen wird. Merkwürdig ist auch, dass das Inhaltsverzeichnis nur Beschreibungen wie »Eine wissenschaftliche Methode« (über Descartes) oder »Ein Katalysator der Wissenschaften« (über Mersenne) enthält, aber keine Namen – diese stehen nur jeweils über den Einzelbeiträgen.
Die Qual der Wahl
Die Entscheidung, welche Mathematiker er vorstellt, hat sich Hellweg sicherlich nicht leicht gemacht, und die Aufnahme der berücksichtigten Persönlichkeiten ist in allen Fällen vertretbar. Gleichwohl ist einzuwenden, dass im Buch nur ein Beitrag zur chinesischen und nur drei Beiträge zur indischen Mathematik vorkommen, wobei die Kurzgeschichte über Aryabhata mit Überschrift »auf den Spuren von Diophant« einen unpassenden eurozentrierten Ansatz verrät. Am Ende des Werks geht der Autor auch auf eine Reihe von Personen ein, welche die Mathematik des 20. Jahrhunderts geprägt haben, wie Mordell, Urysohn und Artin; er berücksichtigt dabei auch die fachlich genialen Beiträge des ideologisch besessenen Nationalsozialisten Ludwig Bieberbach.
Von den genannten Kritikpunkten und einigen Fehlern abgesehen (so endete Tartaglia leider nicht als angesehener Bürger Venedigs, sondern in bitterer Armut), ist es dem Autor zweifellos gelungen, das ständige Ringen der Mathematiker um die im Buchtitel angesprochenen Begriffe »Raum« und »Zahl« angemessen und sogar spannend zu wiederzugeben. Insgesamt ist Hellwegs Buch anregend verfasst und lädt zum vertieften Studium der historischen Entwicklungen ein. Falls der Verlag eine weitere Neuauflage ins Auge fasst, sollte diese um Hinweise auf verwendete Quellen und Tipps für eine weiterführende Lektüre und natürlich um ein Inhaltsverzeichnis ergänzt werden, in dem die Namen der Mathematiker enthalten sind.
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