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»Metropoloen«: Wein, Hering und Marzipan

Warum Lübeck in die Weltgeschichte der Metropolen eingegangen ist, erklärt der Historiker Ben Wilson in seinem neuen Buch. Eine Rezension.
Planstadt

Man stutzt unweigerlich, wenn man im Inhaltsverzeichnis des neuen Buchs »Metropolen« von Ben Wilson, eingerahmt von Bagdad und Lissabon, unter der Kapitelüberschrift »Kriegerische Städte« auf das heute eher beschauliche Lübeck stößt. Nicht Berlin, nicht Hamburg, nicht München: Als einzige deutsche Stadt wird Lübeck ein eigenes Kapitel in dem Werk zugestanden.

Schnell wird jedoch deutlich, wie es zu dieser Entscheidung kam. Vom 13. bis zum 15. Jahrhundert dauerte die große Zeit Lübecks an – und mit ihr die große Zeit der Hanse. Die Grundlage ihres Aufstiegs lag zum einen daran, dass Lübeck früh Stadtrechte erhalten hatte und somit unabhängig vom Feudalsystem war. Zum anderen war es die günstige Lage zur Ostsee, die den Handel mit dem Baltikum und Skandinavien ermöglichte. Voraussetzung hierfür war wiederum die Entwicklung eines neuen Hightech-Schiffstyps, der Kogge. Von friedlichem Handel hielten die Lübecker hingegen nichts; sie wussten ihre Interessen durchaus mit Waffengewalt durchzusetzen.

Macht durch Handel und nicht immer die feinsten Methoden im Umgang mit Handelspartnern und Konkurrenten sicherten der Ostseestadt eine beherrschende Stellung im europäischen Raum, bis sie schließlich so mächtig war, dass sie sogar den englischen Königen ihre Bedingungen aufzwingen konnte. Zeitweise gehörten die vier Bürgermeister Lübecks mit zu den mächtigsten Menschen Europas. Sie lenkten die Warenströme von proteinreichem Hering aus Nord- und Ostsee, rheinischem Wein, Holz und Fellen aus dem Baltikum. Sogar die Erfindung des Marzipans nahmen sie für sich – wohl unbegründet – in Anspruch.

Überraschende Aspekte der Geschichte einer Stadt

Darin liegt Stärke des Buchs des Historikers Wilson: Er zeigt immer wieder überraschende Aspekte der Geschichte einer Stadt auf, die (wie am Beispiel Lübecks zu sehen ist) nicht unbedingt zum Allgemeinwissen gehören. Gerade diese Momente sind es, die das Buch spannend machen. Jede Epoche der Weltgeschichte wird mit Metropolen verbunden, die zu dieser Zeit ihre maximale Bedeutung und Charakteristik für die jeweilige Ära erreicht hatten.

Zuerst sind Metropolen Sehnsuchtsorte. Am Beispiel des »Paris-Syndroms« wird deutlich, wie sehr unsere überhöhte Vorstellung von einer Weltstadt und die Realität auseinanderklaffen können. Niemand Geringerer als Sigmund Freud war erschüttert bis zum Nervenzusammenbruch, als er bei einem Besuch von Paris 1885 unsanft erfahren musste, dass seine Vorstellung von der Stadt nicht deckungsgleich mit der bitteren Realität einer hektischen, überfüllten Siedlung war. Das Paris-Syndrom ist ein Phänomen, das heute noch bekannt ist. Es ist die bittere Enttäuschung darüber, dass Ideal und Wirklichkeit nicht übereinstimmen.

Aber die wohlklingenden Namen der Metropolen wecken nun einmal positive Erwartungen. Vielleicht sind gerade die Idealvorstellungen, die wir uns von bedeutenden Städten machen, der Grund dafür, dass Bücher über Metropolen aktuell im Kommen sind. Je schwieriger die Zeiten werden, umso mehr erhofft man sich das Glück einer idealen Stadt.

Was das Buch von Wilson ausmacht, sind die starken zeitgeschichtlichen Beschreibungen, besonders die ungewöhnliche Art, kulturelle Phänomene, soziologische Analysen und sozialgeschichtliche Parameter miteinander zu verknüpfen. Besonders gelungen ist das in dem Kapitel »Sound der Suburbs«, das die Geschichte der US-amerikanischen Großstädte nach dem Zweiten Weltkrieg beschreibt. Der Autor beginnt mit dem Entstehen einer neuen Jugendkultur, die ab den 1970er Jahren in den Armutsvierteln begann und heute weltweit als Hiphop bekannt ist.

Die Großstadt ist ein Dschungel, aus dem man nicht entkommt und in dem man jederzeit droht unterzugehen: Das ist die Botschaft der Elektrorap-Single »The Message«, die Grandmaster Flash and the Furious Five 1982 herausgebracht haben. Ungeschönt beschreibt sie die Brutalität des Lebens in den sozial abgehängten Vierteln. Indem Wilson dieses Lied als Ankerpunkt für seine Analyse benutzt, bekommt man ein weit umfassenderes Verständnis von den Problemlagen in einer Großstadt, als es eine rein nüchterne Beschreibung von Daten, Zahlen und Fakten je leisten könnte.

Eindrücklich sind auch die Schilderungen von Glasgow und Chicago in der Zeit der Industrialisierung. An ihnen kann man nachvollziehen, wie viel Leid Menschen aushalten mussten und unter welchen unmenschlichen Bedingungen Arbeiter damals lebten.

Doch am tiefsten berührt das Kapitel über die Zerstörung Warschaus im Zweiten Weltkrieg. Hitler bestand schon vor dem Krieg darauf, dass Warschau zerstört werden müsse, obwohl es, wie dessen Generäle meinten, militärisch nicht nötig war. 1945 gab schließlich Himmler den Befehl, die Stadt vollständig von der Erdoberfläche verschwinden zu lassen. Am Ende waren 93 Prozent der Stadt vernichtet.

Insgesamt bietet das Buch einen guten Überblick über die Geschichte der Metropolen. Es enthält viele eher unbekannte Aspekte über die Genese der vorgestellten Städte und stellt sie in einen manchmal überraschenden geschichtlichen Zusammenhang. Natürlich könnte man an vielen Stellen monieren, warum ausgerechnet diese Metropole aufgenommen wurde und eine andere nicht – aber das bleibt letztlich die Entscheidung des Autors. Das Buch bietet auf jeden Fall eine beeindruckende Fülle an Wissen, die zum Nachdenken über die Geschichte anregt.

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