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Buchkritik zu »Mit dem Luftschiff über den Wipfeln des Regenwaldes«

Den Regenwald erkundet man am besten von oben. Denn was es im Unterholz zu entdecken gibt, ist allenfalls ein billiger Abklatsch vom Leben in den rund fünfzig Meter Höhe der Baumkronen. Als der Biologe Terry Erwin 1982 erstmals große Mengen von Insekten in den Baumkronen Mittelamerikas sammelte – er spritzte das natürliche Insektizid Pyrethrum in großen Mengen in die Bäume und bestimmte, was ihm entgegenfiel –, musste er die bisherige Schätzung von drei Millionen Tier- und Pflanzenarten auf das Zehnfache erhöhen.Doch wie forscht man am besten und sichersten in luftiger Höhe? "Der Architekt" Gilles Ebersolt, "der Pilot" Dany Cleyet-Marrel und "der Biologe" Francis Hallé, so werden die drei Hauptakteure vorgestellt, praktizieren seit fünfzehn Jahren eine ebenso einfache wie geniale Lösung dieses Problems.Die Franzosen arbeiten von einem Baumfloß aus, einem sechseckigen Gebilde aus Luftschläuchen und Netzen, das an ein riesiges Schlauchboot erinnert und von einem Luftschiff auf den Wipfeln des Waldes zielgerichtet abgesetzt werden kann. Mit 600 Quadratmetern hat es etwa die Oberfläche eines Tennisplatzes. Daneben erlauben weitere einfallsreiche Konstruktionen ganz neue Einblicke in die Welt der Baumkronen: Das Pontondreieck (auf dem Cover abgebildet) wird vom Luftschiff aus gesteuert, während die Kronenkugel, ein Heliumballon mit Passagiergondel, an einem Seil entlanggeführt wird. Beide dienen dazu, im Flug beziehungsweise Schweben über dem Regenwald Proben und Daten zu sammeln. Der Icos-Käfig, eine transportable Konstruktion aus Hartkunststoff und Aluminium von der Form eines Ikosaeders, wird zwischen die Äste eines Baumes geklemmt und dient dort in erster Linie den Ornithologen (Vogelforschern) als Beobachtungsstation.Durch hautnahe Einblicke in den Alltag der Forscher werden die Arbeit und das Leben in und auf dem Regenwald anschaulich und mitreißend dargestellt. Schon das allmorgendliche Erwachen ist im Urwald etwas ganz Besonderes, von einer Nacht auf dem Baumfloß ganz zu schweigen. Das Arbeiten auf dem Floß erweist sich als unerwartet schwierig. Es ist so biegsam konstruiert, dass es auch bei Höhenunterschieden in den Baumkronen von bis zu acht Metern genutzt werden kann. Ein Schritt im Netz zwischen den Luftschläuchen kann fast einen Meter in die Tiefe führen, und jede Bewegung bringt das Floß ins Wanken. "Versuchen Sie doch aus Neugier mal, ein Puzzle zusammenzusetzen, wenn Sie in einer Hängematte sitzen, die im zehnten Stockwerk am Balkon hängt", beschreibt ein Zeichner auf dem Baumfloß seine Arbeitsbedingungen.Und die Forschung auf dem Kronendach ist erstaunlich vielseitig. Vertreter aus mehr als 25 Fachgebieten nutzen bereits die neue Methode: Neben Botanik, Genetik und Entomologie (Insektenforschung) zählen auch ausgefallenere Disziplinen wie etwa die Bioklimatologie dazu. Während im Unterholz die relative Luftfeuchtigkeit fast konstant bei 90 Prozent liegt, ergaben sich auf dem Urwalddach starke Schwankungen: Die Wetterbedingungen oberhalb der Kronen entsprechen denen in der Sahara! So liegt die relative Luftfeuchtigkeit nachts bei 100 Prozent – der Urwald liegt dann regelrecht im Nebel – und fällt in den Mittagsstunden des Tages auf bis zu 40 Prozent ab. In der Folge verfallen viele Bäume in diesem Zeitraum in eine wahre "Mittagsdepression", in der sie die Photosynthese reduzieren oder ganz unterbrechen.Aber auch der Kampf mit den Landesbehörden, Misserfolg und Frust gehören zur Forschung. Die erste Landung des Baumfloßes scheitert kläglich, da der Standort denkbar schlecht gewählt ist. Die als Stütze ausgewählten Morototos, schnell wachsende Pioniergehölze mit einem sehr biegsamen Holz, halten gerade 45 Minuten dem Gewicht der Plattform stand. Luftstreitkräfte müssen den Wissenschaftlern schließlich zur Hilfe kommen, um das Floß zu bergen. 1989 scheitert eine Mission in Brasilien komplett am Widerstand der Behörden. Das Lager wird von den Militärs geschlossen.Bei aller Kuriosität und Abenteuerlichkeit dieser Forschung auf den Wipfeln des Regenwaldes wird zum Ende des Buches ihr wichtiges und überaus ernsthaftes Potenzial ganz deutlich: Sie könnte zur Rettung für den bedrohten Regenwald werden! Denn sie ermöglicht auch den Zugang zu einer ungeheuren, noch kaum erforschten Naturreserve. Rohstoffe mit Anwendungsmöglichkeiten in der Pharmazie, Medizin und Chemie, aber auch bei der Herstellung von Parfüms und Lebensmittelaromen hat der Regenwald in Hülle und Fülle zu bieten. Eine Nutzung dieser Ressourcen wäre nicht nur Gewinn bringender als seine Abholzung, sondern würde gleichzeitig auch den Erhalt des Urwaldes wirtschaftlich lohnenswert machen.Das Buch erfüllt, was der Titel verheißt: Es bietet Einblick in einen Bereich, in dem Forschung oft noch Abenteuer ist. Fotos, kleine Skizzen, einleitende Zitate und eingeschobene Kurzberichte der Beteiligten vermitteln die besondere Urwaldstimmung, sorgen für Anschaulichkeit und lockern das Buch auf angenehme Weise auf. Das Resultat sind sehr vergnügliche Lesestunden.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 10/2002

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