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Tierlieb oder was?

Unser Verhältnis zu Tieren könnte merkwürdiger nicht sein. Wem das bis dato noch nicht klar war, dem wird die Lektüre von Henry Mances Werk die Augen öffnen.

Darf man sich als tierlieb bezeichnen, wenn man ein Haustier hat, in der Freizeit ehrenamtlich beim Tierheim hilft und regelmäßig für Tierschutzprojekte spendet, zum Abendessen aber ein Salamibrot isst? Schwierig, sagt der Journalist Henry Mance. Und tatsächlich ist es nicht von der Hand zu weisen: Wir bevorzugen einige Tiere gegenüber anderen. Wir lieben unsere Hunde, haben aber kein Problem damit, dass Kühe, Schweine und Hühner ein elendes Leben führen, während sie darauf warten, geschlachtet zu werden. Dafür gibt es sogar ein Wort: Speziesismus.

Um das Leid der Tiere vor Augen zu führen, berichtet Mance im ersten Teil des Buchs von seinen Erlebnissen als Schlachthofmitarbeiter – und natürlich will man das nicht wissen. Aber das Geschilderte passiert Tag für Tag, und es hört nur auf, wenn wir aufhören Fleisch zu essen. Zumindest behauptet das Mance gleich im nächsten Kapitel. In diesem Zusammenhang wird er nicht müde, die globalen Zusammenhänge zwischen Fleischwirtschaft, Konsumverhalten und Klimawandel zu betonen und mit den üblichen Statistiken zu untermauern.

Ein gesondertes Kapitel widmet er den Fischen und der Frage, ob diese vielleicht doch Schmerz fühlen können. Mance schildert die äußerst bedenkliche Lage der Ozeane und die Bemühungen der Menschheit, diese mittels Fischzuchtanlagen wieder ins Lot zu bringen und zu welchen Problemen das führt. All das sollte inzwischen nichts Neues mehr sein, so dass diese Passagen bei kundigen Lesern und Leserinnen vielleicht etwas Langeweile hervorrufen – es lohnt sich aber, durchzuhalten oder einfach weiterzublättern.

Jagen erlaubt?

Denn auch die Jagd geht der Autor fundiert und tiefgründig an. Ist es ethisch vertretbar, Hirsche zu erschießen, um eine Population im Zaum zu halten und damit ganze Ökosysteme vor dem Untergang zu bewahren? Auch wenn man zuvor durch die Jagd der entsprechenden Prädatoren dafür gesorgt hat, dass die Hirsche sich vermehren wie die Karnickel? Das ist eine Frage, mit der sich gegenwärtig viele Regionen in den USA konfrontiert sehen. Menschliche Abgründe tun sich auf, wenn man vernünftigerweise fordert, auch weibliche Tiere zu schießen, statt nur die männlichen – aber die sind es eben, deren Geweih sich über dem Kaminsims so schön machen.

Nichtsdestoweniger kann es sogar gut sein, wenn ein afrikanisches Land die so genannte Trophäenjagd auf Elefanten, Löwen und Co. erlaubt. Dann nämlich, wenn die Einnahmen daraus groß genug sind, um die Wildfläche davor zu bewahren, in eine Weidefläche umgewandelt zu werden. Tierschutz und Naturschutz gehen überraschend selten Hand in Hand, wie Mance vor Augen führt.

Man kann kein Buch über das Verhältnis zwischen Mensch und Tier schreiben, ohne Zoos zu erwähnen. Was lernen Kinder im Zoo? Dass es in Ordnung ist, Tiere, die in der Wildnis mehrere Quadratkilometer große Reviere durchstreifen, in einem Käfig zu halten, der kaum größer ist als eine gewöhnliche Dreizimmerwohnung. Es ist normal, dass Elefanten im Zoo sind und dort Spasmen und sonstiges abnormes Verhalten entwickeln. Im kollektiven Bewusstsein der Besucher hält sich die Vorstellung, dass die Einrichtungen für die Erhaltung bedrohter Arten stehen. Viele der darin gehaltenen Tierarten sind aber gar nicht bedroht. Alternativen zu Zoos gibt es zuhauf, schildert Mance. Die kosten aber Geld.

Möchte man Absurdes hören oder sehen, lohnt es sich häufig, einen Blick auf die USA zu werfen. Dort offenbart sich die Schizophrenie unseres Verhältnisses zu den Tieren zumindest teilweise besonders krass. Ein Beispiel dafür ist Puppuccino (aus dem Englischen: puppy = Welpe), ein kleiner Pappbecher mit einer Portion Schlagsahne, den man bei Starbucks für seinen Hund kaufen kann. Oder Hunde-Spielzeugtaschen, damit man das Spielzeug seines Lieblings überall mit hinnehmen kann oder eben auch den Hund hineinstecken kann, um sich der Fangemeinde auf Instagram und Co. stylisch zu präsentieren.

Zudem gibt es in Übersee das Phänomen des Dogfishing, bei dem man mit anderer Leute Hunde posiert, um sein eigenes Profilbild aufzuwerten. Google fordert seine Angestellten auf, ihre Hunde zur Arbeit mitzubringen. Es gibt Hundepensionen und Hundetagesstätten, wo man seinen Vierbeiner lassen kann, während man shoppen geht. Eine Premiummitgliedschaft kostet 25 500 US-Dollar jährlich. Auf der CorgiCon in San Francisco kann der tierische Begleiter surfen lernen. US-Amerikaner geben 95 Milliarden Dollar jährlich für ihre Haustiere aus – achtmal so viel wie für Natur- und Tierschutzorganisationen. Beim abendlichen Barbecue werden dann Koteletts gegrillt, und natürlich bekommt der vierbeinige Liebling davon auch etwas ab.

Dass einige Hundezüchtungen wie Möpse inzwischen kaum noch ohne ständige medizinische Betreuung lebensfähig sind, dass diese Tiere leiden, während man sich mit ihnen schmückt, findet weniger öffentliches Interesse. Mance gelingt es, die Absurditäten in unserem Verhältnis zu Tieren herauszuarbeiten, ohne dabei mit dem erhobenen Zeigefinger zu wedeln. Das Buch zeigt auf, statt anzuklagen. Ganz in diesem Sinne gibt er am Ende auch Handlungsempfehlungen sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftspolitischer Ebene. Beispielsweise solle man sich vegan ernähren oder die Ausgaben für sein Haustier ausgleichen, indem man ebenso viel für Natur- und Tierschutz spendet. Weiterhin sei es wichtig, den eigenen Kindern die Wahrheit über die Lage der Welt zu sagen und Wege aufzuzeigen, wie man sie verbessern kann. Ein durch und durch empfehlenswertes Buch.

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