»Mythen der Geografie«: »Fake News« über die Erde
»Anthropogene Überformung«: Das ist der Begriff, den so mancher Student der Geografie gern auf Partys und manchmal auch in Prüfungen ausgräbt, wenn er Aufmerksamkeit erheischen möchte. Der Ausdruck besagt nichts anderes, als dass der Mensch die Oberfläche des Blauen Planeten nach seinen Vorstellungen umbaut, anpasst und oft einfach nach seinem Gusto einteilt. Die physische Welt, in der wir leben, ist mittlerweile zu einem beträchtlichen Teil menschengemacht. Und wie das so ist, wenn es menschelt, ranken sich auch um einige geografische Vorstellungen hartnäckig »Mythen« – Halbwahrheiten und Falschinformationen, die sich manchmal über Jahrhunderte halten.
Paul Richardson behandelt in »Mythen der Geografie« genau jene »Fakten« zur Erde und ihrer Kulturgeschichte, die man wahrscheinlich schon mal irgendwo gehört hat, die aber eben nicht den Tatsachen entsprechen. Die Mythen, um die es dem Professor für Humangeografie an der University of Birmingham geht, sind imaginäre Auffassungen von der Erde, ihren Ländern, Kontinenten, Grenzen und Regionen, die in unseren Köpfen existieren, die Welt aber nicht angemessen abbilden. Acht dieser Mythen beschreibt Richardson in seinem Buch. Er nimmt seine Leser mit auf eine Reise durch Zeit und Raum. Angefangen bei der Entstehung der Kontinente, weiter über den Aufstieg Chinas bis hin zum Krieg in der Ukraine.
Ein Aspekt, der bei fast all diesen Mythen eine Rolle spielt, sind Grenzen. Wie etwa zieht man diese bei Kontinenten oder Ländern? Oft sind diese willkürlich, aus machtpolitischen Gründen erschaffen, schlecht durchdacht oder fadenscheinig begründet. Richardson widmet diesen imaginären Linien und den auf ihnen als Grundlage errichteten Bauwerken ein eigenes Kapitel. Er erläutert, warum etwa Mauern nicht den Zweck erfüllen, für den sie vordergründig gebaut werden. Beispiele dafür gibt es zur Genüge, etwa die innerdeutsche Grenze, Donald Trumps Mauerprojekt an der Grenze zu Mexiko oder auch den antiken, längst verschwundenen Hadrianswall der Römer im heutigen Großbritannien.
Die positive Macht der Fantasie
Am Ende des Buchs dreht Richardson den Spieß um, indem er auf den möglichen Nutzen menschlicher Einbildungskraft setzt und einen provokanten Gedanken wagt: Wenn wir uns vorstellen können, dass es Gebirge gibt, die Kontinente trennen, oder ganze Nationen mit erfundenen Traditionen mobilisieren und Geschichten über Länder erfinden können – dann sollte es doch auch möglich sein, revolutionäre Wege zu finden, die Welt produktiv neu zu denken. Richardson hält dies in einer sich rasant verändernden Welt für dringend notwendig. Vor uns liegen wichtige Entscheidungen, schreibt er, die bedingen, wem und welchen Zwängen wir in Zukunft unterworfen sein werden.
Aus Sicht des Autors gereichen die vorherrschenden Mythen der Menschheit zunehmend zum Nachteil. Teil einer notwendigen Kursänderung wäre es, Grenzen verschwinden zu lassen. Die Parzellen nationalen Raums, die sie hervorbringen, werden nach Richardsons Überzeugung den Weiten der Menschheitsgeschichte und den dynamischen Veränderungen, die unseren Planeten definieren, nicht gerecht. Ließen wir die oft künstlich gezogenen Grenzen fallen, könnten wir uns den realen Ungerechtigkeiten, der gesellschaftlichen Spaltung und den Umweltkatastrophen, mit denen wir uns heute konfrontiert sehen, effektiver stellen.
Mit seinem Buch eröffnet Paul Richardson spannende Perspektiven auf die über Jahrtausende entstandene globale Kulturgeografie, die auch die Physis der Erde grundlegend verändert hat. Folgt man dem Autor, hat die politische Kartierung der Erde ihre Daseinsberechtigung verloren. Die Lektüre zeigt auch: »Fake News« sind keine Erfindung der Neuzeit. Im Laufe der Geschichte hatten sie die Geografie unseres Planeten und damit das Schicksal der Menschheit so einige Male fest im Griff. Jetzt ist es an der Zeit, ermuntert uns der Autor, sie aufs Abstellgleis zu schieben und unvoreingenommen Zukunftsvisionen zu entwickeln.
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