»Nach 1177 v. Chr.«: Resilienz und Transformation nach dem Kollaps
Die frühe Eisenzeit im östlichen Mittelmeerraum wird oft als »dunkles Zeitalter« bezeichnet. Zu Unrecht, wie Eric H. Cline zeigt: Er beschreibt die Resilienz, den Erfindergeist und die Anpassungsfähigkeit von Völkern nach einem Kollaps.
Denn auch nach einschneidenden, katastrophalen Ereignissen ist die Geschichte der Menschen bisher noch nie geendet: Gesellschaften überleben, verändern sich und passen sich an neue Bedingungen an. In »Nach 1177 v. Chr.« befasst sich Eric H. Cline mit dem Übergang von der Bronze- zur Eisenzeit – neun Jahre, nachdem er mit »1177 v. Chr.« eine umfassende populärwissenschaftliche Abhandlung über das Ende der späten Bronzezeit im östlichen Mittelmeerraum veröffentlicht hat. Darin erörterte der Archäologe die möglichen Gründe für den plötzlichen Zusammenbruch der komplexen Staatengemeinschaft, die sich dort über mehrere Jahrhunderte gehalten hatte. Nun beschreibt er, wie Ägypter, Assyrer, Phönizier, Aramäer, Israeliten und andere Völkerschaften die neue Weltordnung für sich nutzen konnten – oder eben nicht.
Auf die Ära der Großreiche, die untereinander Diplomatie betrieben und von den weniger Mächtigen Tribut forderten, folgte eine Phase, in der sich auch kleinere Völkerschaften behaupten konnten, bis schließlich neue Großmächte aufstiegen. Auch anhand neuer Erkenntnisse zu Klimaentwicklungen am Übergang vom ersten zum zweiten Jahrtausend v. Chr. erklärt Cline etwa den Aufstieg des Assyrischen Reichs, bis dahin ein bestenfalls zweitrangiger Player unter den Mächtigen in Westasien. Dabei unterwarfen die kriegerischen Assyrer unter anderem das ehemals nomadische Volk der Aramäer, das in den Jahrhunderten seit dem Zusammenbruch der alten Großmächte zahlreiche Stadtstaaten im heutigen Syrien gegründet hatte, und forderten Tribut von den Königen Israels. Das Assyrische Reich sollte ein Territorialstaat nie dagewesenen Ausmaßes werden, der für kurze Zeit selbst das einst mächtige Ägypten eroberte. Während diese ehemalige Supermacht nie mehr zu ihrer alten Größe zurückkehren sollte, schafften andere Kulturen es, sich nach kurzer Zeit von den instabilen Verhältnissen zu erholen. Etwa das rohstoffreiche Zypern, in dem man von der Verarbeitung des im Staatengeflecht der Spätbronzezeit begehrten Kupfers scheinbar nahtlos zur Verarbeitung von Eisen überging. Jedoch, so mahnt der Autor, sind die Details dieser Umstellung aktuell noch Gegenstand nicht abgeschlossener Forschung und unterschiedlicher Theorien. Andere Kulturen profitierten von der Schwäche der ehemaligen Großmächte. In der nördlichen Levante waren das etwa die Phönizier, die sich ab dem 11. Jahrhundert v. Chr. zur vorherrschenden Seemacht im Mittelmeer entwickelten, weiter südlich die Israeliten.
Die Komplexität von Aufstieg und Niedergang
Wie bereits im Vorgängerbuch lässt Cline auch in diesem Werk die Entdeckungsgeschichte der Region nicht außen vor: Gerade im Bereich der Archäologie des so genannten Heiligen Landes ist dies wichtig bei der populärwissenschaftlichen Darstellung des Forschungsstands. In rund 200 Jahren hat sich das Fach stark gewandelt und seine Mission, die in der Bibel beschriebenen Ereignisse zu belegen, zunehmend zugunsten eines wissenschaftlichen Ansatzes abgelegt. So gleicht der Autor in seinem Kapitel über Israel und die südliche Levante biblische und andere Textquellen mit neuesten archäologischen Forschungsergebnissen ab und gibt damit einen guten Überblick über den aktuellen Erkenntnisstand zur Entstehung des Königreichs Israel. Weitere Kapitel behandeln Assyrien und Babylonien, Phönizien und Zypern, Anatolien und Nordsyrien und schließlich die Ägäis. Abschließend zieht der Autor ein Fazit aus den Forschungsergebnissen der zahlreichen Fundstätten, die darin vorgestellt wurden, und geht auf die Lehren ein, die sich für die heutige Welt aus der Geschichte möglicherweise ziehen lassen.
Wie der Zusammenbruch sind auch das Überleben oder der (Wieder-)Aufstieg von Kulturen nicht nur durch einen einzigen, sondern eine Vielzahl an Umständen zu begründen. Die einen profitierten von günstigen Klimaverhältnissen, andere von der Schwäche eines ehemals übermächtigen Nachbarn oder der Nutzung einer neuen Technologie: der Eisenverarbeitung. Mit der Zeit bildete sich dadurch ein Zusammenspiel der verschiedenen Völker heraus, das nicht weniger komplex war als das der Spätbronzezeit. Die verschlungenen Wege, auf denen die Völker an diesem Punkt ankamen und die wir heute anhand archäologischer Belege zumindest teilweise nachvollziehen können, beschreibt Cline ebenso allgemeinverständlich wie spannend. Er lässt dabei immer wieder die Archäologinnen und Archäologen zu Wort kommen, die sich aktuell mit der frühen Eisenzeit beschäftigen. Die Übersetzung von Jörg Fündling liest sich flüssig und elegant.
»Nach 1177 v. Chr.« ist nicht nur eine erhellende Fortsetzung von »1177 v. Chr.« sondern auch für sich ein hochinteressantes Werk, das Licht auf eine geschichtliche Periode wirft, die oft – zu Unrecht – als »dunkles Zeitalter« beschrieben wird.
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