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Braucht die Naturforschung eine metaphysische Grundlage?

In der Regel kommen Forscher bei ihrer Arbeit ohne Philosophie zurecht. Ein neues Buch bringt nun eine »Metaphysik der Wissenschaft« ins Gespräch.

Philosophen bezeichnen die gewöhnliche Einstellung der Naturwissenschaftler als Naturalismus. Damit ist die Überzeugung gemeint, dass es in der Welt mit rechten Dingen zugehe: Die Natur mag zwar immer wieder für Überraschungen gut sein, aber diese lassen sich stets als Ergebnis gewisser regelhafter Zusammenhänge erklären. Für alles, was in der Welt vorgeht, existieren natürliche, das heißt mit den Mitteln der empirischen Forschung feststellbare Ursachen. Mit anderen Worten: Wunder, also diesen Rahmen sprengende »übernatürliche« Ursachen, gibt es nicht.

So weit, so gut. Mit dieser Einstellung hat die mathematische Naturwissenschaft ihren historisch einmaligen Siegeszug angetreten, und ihre technischen Anwendungen bestätigen Tag für Tag, wie recht sie hat. Doch sind damit schon alle Probleme erledigt? Bekanntlich streiten die Gelehrten noch immer über die Rolle des messenden Beobachters bei der Deutung der Quantenphysik. Und: Viele Mathematiker erleben ihre Tätigkeit als Entdeckung objektiver Strukturen, nicht als bloßes Erfinden beliebiger Gedankenspiele. Heißt das nun, die Mathematik existiere unabhängig vom menschlichen Bewusstsein, und wenn ja, wo und wie? Und was ist mit dem Bewusstsein selbst? Wenn es sich restlos als Hirnaktivität erklären lässt, wo bleiben dann unsere subjektiven Erlebnisse, die doch etwas qualitativ ganz Anderes zu sein scheinen, etwas irreduzibel Privates?

Jenseits der Physik

Martin Mahner, Wissenschaftsphilosoph und promovierter Biologe, will zeigen, dass solche Fragen im Rahmen des Naturalismus eine befriedigende Antwort finden können. Allerdings handelt es sich um philosophische Probleme, und deshalb braucht der Naturalismus für ihre Lösung eine entsprechende Grundlage, die Mahner die »Metaphysik der Wissenschaft« nennt.

Nun ist Metaphysik ein Begriff, den man heute eher mit wissenschaftsferner Spekulation verbindet. Mahner meint damit aber Naturphilosophie oder Wissenschaftstheorie; er will nur betonen, dass es ihm im Sinn des ursprünglichen griechischen Worts um etwas »jenseits der Physik« geht.

Stark geprägt hat den Autor ein Studienaufenthalt bei dem argentinischen Philosophen und Physiker Mario Bunge, einem erklärten philosophischen Materialisten, der unter anderem den deutschen Naturphilosophen Bernulf Kanitscheider (1939-2017) beeinflusste. Bunge und Mahner gehören zu jenen naturalistisch-materialistischen Denkern, die explizit zeigen möchten, dass wir keine übernatürlichen, übersinnlichen oder rein geistigen Wesenheiten brauchen, um die gesamte Wirklichkeit zu erfassen. Diese philosophische Argumentation hat es allerdings nicht leicht. Bei den meisten praktizierenden Naturforschern rennt sie offene Türen ein und wird als überflüssige Metaphysik empfunden. Bei religiösen Menschen hingegen – zu denen durchaus auch Naturwissenschaftler zählen können – sowie bei vielen Philosophen stößt sie auf empörten Widerspruch. Besonders zwei Punkte sorgen für andauernden Streit: Lassen sich geistige Erlebnisse durch materielle Prozesse erklären? Und: Welchen »ontologischen Status« – welches Dasein – billigen wir Allgemeinbegriffen zu, insbesondere den Zahlen und der Mathematik?

Lässt man den ersten Streitpunkt, das Leib-Seele-Problem, einmal beiseite, bleibt als zweiter das so genannte Universalienproblem, das die Philosophen seit der mittelalterlichen Scholastik umtreibt. Sind Allgemeinbegriffe – Universalien – freie Schöpfungen des menschlichen Geistes, oder existieren sie in irgendeiner Weise unabhängig vom menschlichen Bewusstsein? Falls es sich um beliebige Gedankengebilde handelt, wie erklären wir dann, dass sie so gut auf die Wirklichkeit passen? Selbst Einstein bezeichnete die Tatsache, dass die Mathematik hervorragend zur Naturbeschreibung taugt, als unerklärliches Wunder.

Mahner neigt dazu, mathematische Begriffe als sprachliche Werkzeuge zu betrachten, die der Natur äußerlich sind. Er lehnt Kanitscheiders Versuch ab, den Erfolg der mathematischen Naturbeschreibung durch eine Übereinstimmung von mathematischen und natürlichen Strukturen zu erklären. Die Natur, so Mahner, bestehe aus Dingen, nicht aus Strukturen.

Doch wie können Universalien die Natur erfassen, wenn diese bloß ein Sammelsurium aus lauter Einzeldingen darstellt? Nehmen wir den Begriff der biologischen Art. Eine Spezies, etwa der Gemeine Schimpanse (Pan troglodytes), ist zunächst nur ein sprachlicher Allgemeinbegriff für eine Menge von Lebewesen. Ihm entspricht aber etwas Reales, nämlich die gemeinsame Herausbildung von Populationen im Lauf der biologischen Evolution. Darwins Vorstellung von der Auffächerung der Arten (»adaptive Radiation«) ist somit nicht nur ein gedankliches Ordnungsschema, sondern spiegelt die wirkliche Naturentwicklung wider. Es gibt also durchaus Entsprechungen zwischen begrifflichen und realen Strukturen, die über das bloße Benennen von Einzeldingen hinausgehen.

Mahners Argumentation überzeugt daher nicht vollends. Ein Naturalismus, der den Strukturbegriff ernster nimmt, als der Autor das tut, könnte die »Metaphysik der Wissenschaft« in einem wichtigen Punkt bereichern. In der Philosophie der Physik geschieht das neuerdings mit dem so genannten Strukturenrealismus.

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