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Abschied vom Auto

Journalist Salomon Scharffenberg plädiert für eine Abschaffung des Automobils.

Die Corona-Krise ändert alles – auch den Verkehr. Wo sich kürzlich noch Blechlawinen in die Innenstädte wälzten, sind heute Fußgänger und Radfahrer unterwegs. In Adelaide, Australien, haben Kängurus die Straßen zurückerobert. In Paris flanieren Fußgänger auf den sonst vielbefahrenen Quais. Und in indischen Städten sieht man dank geringerer Luftverschmutzung wieder den Himalaja. Vor diesem Hintergrund kommt die Streitschrift »No Car« des Journalisten Salomon Scharffenberg wie gerufen. Sein Buch ist eine Generalabrechnung mit dem Auto und zugleich ein Zukunftsentwurf für die Mobilität von morgen.

Die Probleme sind unschwer zu benennen: Emissionen, Staus, Lärm, Raser, Verkehrstote, Flächenverbrauch. »In Deutschland gibt es fast keine Flächen mehr, die wenigstens einen Kilometer von Straßen entfernt liegen«, kritisiert der Autor. »Wer hier zu Lande wandert oder Rad fährt, hat kaum eine Chance, dem Lärm von Autos und Motorrädern zu entkommen.« Das Auto sei derart raumgreifend, dass die Natur kaum noch atmen könne. Quadratkilometer um Quadratkilometer würde für den Bau von Straßen, Brücken und Parkhäusern versiegelt.

Enorme Ressourcenvernichtung

Schuld daran sei die Auto-Lobby, die bei der Mobilitätswende auf die Bremse drücke und die Straße gegenüber der Schiene protegiere. Eine Strategie, die alles andere als nachhaltig sei. Leben, Rohstoffe, Flächen – all das fordere das Auto im Überfluss. Das Auto sei »die Pest der Gegenwart«. Für Scharffenberg ist klar: »Ohne Auto leben wir besser.«

Der Journalist skizziert, wie die Mobilität der Zukunft aussehen könnte: mehr Radwege, Förderung von Lasten- und Diensträdern, Ausbau des Schienennetzes. Dazu die Erprobung neue Verkehrskonzepte wie Flugtaxis oder die appbasierte Vergabe von Sitzplätzen im öffentlichen Nahverkehr (etwa für Schwangere).

Zwar räumt Scharffenberg ein, dass die Abschaffung des Automobils »ein ziemlich harter Einschnitt in die menschliche Gesellschaft« wäre, der Arbeitsplätze kostete. Doch der Nutzen überstiege die Kosten bei Weitem. Man gewönne mehr Lebensqualität und auch mehr Bewegungsfreiheit, wenn man nicht mehr auf das Auto als Transportmittel angewiesen sei. »Sind die Autos erst einmal verschwunden, werden wir uns wundern, wie viel Raum entstanden ist, der ganz anders genutzt werden kann; Raum, in dem wieder Leben stattfindet, statt nur als Untergrund für Stahl- und Kunststoffkolosse zu dienen.«

Scharffenberg entwickelt die Vision einer »Fahrrad-Eisenbahn-Gesellschaft«, in der Güter auf der Schiene transportiert werden und Lastenräder in den Städten Waren liefern. »Läden, Ärzte, Krankenhäuser, Behörden und so weiter müssen bequem mit dem Fahrrad oder öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar sein«, fordert der Autor. Der Umbau der Automobil- zur Fahrrad-Eisenbahn-Gesellschaft werden einiges kosten, da macht sich der Autor keine Illusionen. Doch öffentliche Gelder seien da.

Nun muss man bedenken, dass das Buch vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie geschrieben wurde, als noch keine milliardenschweren Hilfspakete geschnürt wurden und die Prioritäten andere waren. Trotzdem verliert der Aufruf einer autofreien Gesellschaft nicht an Aktualität und Dringlichkeit, im Gegenteil. Erstens bleiben die Probleme weiterhin bestehen. Zweitens haben die überraschend schnell locker gemachten staatlichen Fördergelder und der Rekordumbau des öffentlichen Lebens gezeigt, dass offenbar doch vieles möglich ist, von dem uns jahrzehntelang erzählt wurde, es sei keinesfalls machbar.

Scharffenbergs Appell für eine autofreie Zukunft ist schlüssig. Allerdings scheint der Autor dabei eine stark stadtzentrierte Perspektive einzunehmen. Nicht jeder Bürger hat vor der Haustüre eine Bushaltstelle. Für Menschen im ländlichen Raum, wo der nächste Bahnhof 20 Kilometer entfernt ist, kommt häufig nur das Auto als Verkehrsmittel in Frage. Die Forderung nach besserer Erreichbarkeit von Arztpraxen und Behörden wirkt da fast ein wenig naiv, weil man die Raumplanung nicht von heute auf morgen ändern kann.

Für eine Streitschrift ist das legitim. Allerdings offenbaren sich hier und da auch argumentative Schwächen. Wenn der Autor schreibt, ein Grundeinkommen erleichtere den Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor, und im nächsten Satz postuliert, die Agrarwende müsse endlich kommen, wirft er zu viele Dinge in einen Topf. Seine Forderung nach einem gesetzlichen Verbot von Autos ist nicht unbedingt illegitim, in ihrer Pauschalität allerdings nicht hinreichend begründet. Schließlich müsste es für dafür sehr gewichtige Argumente geben.

Für die Zukunft braucht es wohl nicht nur physische Mobilität, sondern auch eine Neuorganisation des Lebens. Zu fragen ist beispielsweise, ob man für jede ärztliche Untersuchung unbedingt 50 Kilometer zum Facharzt fahren muss oder fürs Erste auch eine telemedizinische Konsultation genügt. Oder ob das tägliche Pendeln zum Arbeitsplatz nicht auch ein Stück weit durch Homeoffice und Telearbeit ersetzt werden kann (was derzeit landesweit praktiziert wird). Die Corona-Krise hat den Einsatz solcher Technologien forciert. Die »Fahrrad-Eisenbahn-Gesellschaft« klingt da eher nach 19. Jahrhundert als nach Zukunft.

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