»Nordostpassage«: Ein berühmter Seeweg – und der Klimawandel
29. August 2008, das Wetter: Bremen – wolkig, Dresden – stark bewölkt mit etwas Regen, Frankfurt/Main – wolkig, München-Flughafen – stark bewölkt, Zugspitze – wolkig. Die Temperaturen in Deutschland im August: erneut leicht über der mehrjährigen Mitteltemperatur. Nordwest- und Nordostpassage erstmals beide gleichzeitig eisfrei.
Was in Deutschland als ein etwas trister Sommertag in die Wetteraufzeichnung einging, hatte es, global gesehen, in sich. Immer weiter hatte sich das arktische Eis in den vorherigen Sommern zurückgezogen. Ende August 2008 war es dann so weit: Das »National Snow and Ice Data Center« der USA meldete, dass der Weg durch die Nordwestpassage, den der norwegische Polarforscher Amundsen im Jahr 1903 genommen hatte, eisfrei war; ebenso die Nordostpassage, von der Insel Nowaja Semlja bis zur Beringstraße, zwischen Russland und Alaska. Eine Schiffspassage rund um den Arktischen Ozean war damit, zumindest theoretisch, erstmals möglich – eine Tatsache, die nicht nur für eingefleischte Meteorologen oder Polarforscher von Interesse ist, sondern in Zukunft praktisch relevant werden könnte. Wäre der Seeweg entlang der Nordküste Russlands, etwa von Hamburg nach Japan, doch erheblich kürzer als die klassische Route durch den Suezkanal; eine attraktive, weil kosten- und zeitsparende Variante für die Schifffahrt also.
Seit Jahrhunderten ist sie im Blick von Händlern, Militärs, Machthabern und Forschern gleichermaßen: die Nordostpassage entlang der gesamten Nordküste Russlands, die über 6500 Kilometer durch arktische Gewässer führt. In 15 Kapiteln nimmt der Historiker Andreas Renner seine Leser mit auf die Reise durch Eis und Schnee, von Murmansk auf der Kola-Halbinsel bis zur Beringstraße.
Der Autor beleuchtet die Geschichte des Seewegs unter ganz verschiedenen Gesichtspunkten – etwa wirtschaftlich, politisch und militärisch . Er fasst sein Thema dabei etwas weiter, als es der Titel verspricht, indem er mit der gesamten Arktis einen noch größeren geografischen Raum in den Blick nimmt. Renner schildert dabei die ganze Vielfalt der Interessen, die mit der Erschließung des »Nördlichen Seewegs«, wie er in Russland genannt wird, verbunden war und ist. Schnell wird dem Leser klar: Es bedurfte nicht erst des Aufbaus internationaler Handelsbeziehungen bis ins fernste Asien, um den Seeweg entlang der russischen Küste zu einer hochinteressanten Route zu machen. Bereits Teilstücke der Strecke versprachen schon im 16. Jahrhundert ein lukratives Geschäft, begünstigte doch jede schiffbare Route den Handel mit dem russischen Exportschlager Nr. 1: Tierfellen. Hinzu kam das politische Interesse einzelner Staaten, diesen Seeweg zu kontrollieren. Und die Aussicht, eine Landverbindung zwischen Russland und Amerika zu ermöglichen, war für einen von der Schifffahrt begeisterten Herrscher wie Peter den Großen ein enormer Ansporn.
Enorm aufwendige Expeditionen
Auch aus wissenschaftlichen Gründen wurde ein schier unfassbarer Aufwand betrieben, um die nördliche Küste des russischen Reichs zu erkunden, wie der Autor eindrücklich schildert. Die »Große Nordische Expedition«, die im Jahr 1733 begann und zehn Jahre dauern sollte, steht heutigen Polarexpeditionen in nichts nach – im Gegenteil. Unter der Leitung von Vitus Bering wurden Seewege vermessen, Proben genommen sowie ethnografische und historische Erkundungen Sibiriens durchgeführt. Der finanzielle und personelle Einsatz, der für diese Expedition betrieben wurde, ist heute kaum mehr vorstellbar. Begleitet wurde sie durch die erst acht Jahre zuvor gegründete Akademie der Wissenschaften. Insgesamt 3000 Personen waren über die Jahre an der Expedition beteiligt, ihre Gesamtkosten beliefen sich auf ein Sechstel der jährlichen Staatseinnahmen.
Neben historischen Schilderungen wie diesen kommen auch aktuelle Aspekte nicht zu kurz, etwa wenn es um den Tourismus geht oder die Frage, wie sich die Nutzung dieses Seewegs zukünftig gestalten könnte. Die Besitz- und Nutzungsansprüche in weiteren Bereichen der Arktis – auch jenseits der Nordostpassage – nimmt das Buch ebenso in den Blick wie den Wettlauf zum Nordpol und die faszinierende Erschließung des nördlichsten Punkts der Erde auf dem Luftweg. Diese Abschweifungen vom eigentlichen Thema sind für den Leser eine Bereicherung. Insgesamt ist Renners Buch, das zudem ein umfangreiches Quellenverzeichnis, ein Register, Verweise auf weiterführende Literatur und eine Zeitleiste bietet, eine spannende Entdeckungsreise und ausgesprochen lesenswert.
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