»Organisch«: Ein Blick nach innen
Organe: ein Thema, das nicht jeden unmittelbar begeistern dürfte. Man kennt sie aus dem Schulunterricht, es gibt zahlreiche Fachbücher über sie, und auf praktisch jede Frage zum Thema findet sich eine Antwort im Internet. Kann also ein weiteres Buch, das sich den Organen widmet, überhaupt einen Mehrwert haben? Im Fall von »Organisch« lautet die Antwort: Ja, es kann. Denn der Autorin gelingt etwas, das in der heutigen Informationsflut besonders wertvoll ist: Sie verknüpft Fachinformationen mit persönlichen Erfahrungen, kreiert verständliche und anschauliche Bilder und schafft einen unterhaltsamen Lesefluss, der es einem leicht macht, das Gelesene zu behalten und den Blick über den bloßen Wissenserwerb auf Lebensfragen hinaus zu weiten. Dies tut Enders, indem sie in jedem Kapitel ein Körperteil mit einer ihr wichtigen Person verknüpft: die Lunge mit Uroma Müdi, das Immunsystem mit Familienfreund Bill und die Muskeln mit ihrer tatkräftigen Mutter Anette. Nebenbei erfährt man auch, wie es im Leben der Autorin nach ihrem Bestsellererfolg weiterging.
Von der Medizinstudentin zur Ärztin
Gut elf Jahre nach »Darm mit Charme« scheint die 35-Jährige ihrem Herzensthema treu geblieben zu sein: Mittlerweile ist sie fertig mit dem Medizinstudium, ausgebildete Gastroenterologin und hat im Bereich Mikrobiologie geforscht. Wie »Darm mit Charme« hat ihre ältere Schwester Jill Enders auch »Organisch« illustriert und laut der Autorin auch sonst eine tragende Rolle bei der Entstehung beider Bücher gespielt. Im letzten Kapitel »Gehirn« vergleicht Giulia Enders die Zusammenarbeit der Schwestern mit dem äußerst effektiven Zusammenspiel des Gehirns mit den anderen Organen. »Ich las die Studien und formulierte, Jill zeichnete, hinterfragte, hakte nach. Fehlte mir eine Idee, hatte sie eine, und brauchte sie ein Motiv, fiel mir eines ein. Unsere Kommunikation klappte in zeitsparender Ehrlichkeit: ›Zu schachtelig‹, schrieb sie neben meinen Text, und ich wusste Bescheid. ›Mehr Fetz‹ gab ich auf eine Zeichnung zurück, und am nächsten Tag fetzte sie fein.« Nach diesem Prinzip funktioniert das ganze Buch: Zu Beginn jedes Kapitels berichtet die Autorin von persönlichen Erfahrungen, beschreibt Charaktereigenschaften und Lebenswege eines ihrer Familienmitglieder und erklärt über Analogien dazu die Funktionsweise eines Organs. Behandelt werden dabei Lunge, Immunsystem, Haut, Muskeln und Gehirn.
Fachlich fundiert
Der Ansatz mag ungewöhnlich wirken, aber er funktioniert sehr gut. Dabei gelingt es Enders, fachlich korrekt zu bleiben und zugleich komplizierte Zusammenhänge verständlich und anschaulich zu erklären. So beschreibt sie im Kapitel »Lunge«, wie es das Leben auf der Erde vor 2,4 Milliarden Jahren schaffte, sich an die veränderten Umweltbedingungen nach einem »furchtbaren Giftgasunfall« anzupassen. Wegen mutierter Meeresbakterien waren auf einmal überall für die damaligen Lebewesen zerstörerische Sauerstoffmoleküle unterwegs. Das Verhalten von Sauerstoff beschreibt Enders dabei so: »Sauerstoff ist hoch reaktiv. Er verbindet sich mit so ziemlich allem, was in seiner Nähe ist. Eisen? – Rost! Frischer Apfel? – Brauner Apfel! Wasserstoff? – Wasser!« Durch solche direkten, spielerischen und anschaulichen Beschreibungen verdeutlicht die Autorin, wie ausgeklügelt unser Körper auf unsere Umwelt, in diesem Fall Sauerstoffmoleküle, zu reagieren weiß; und wie geradezu brillant er darin ist, positive Aspekte zu nutzen und sich vor potenziell negativen – zum Beispiel der hohen Reaktivität des Sauerstoffs – zu schützen. So ist das Eisen auf unseren Blutkörperchen so geschickt in Proteine eingefaltet, dass der Sauerstoff nah genug an das Eisen herankommt, um sich an das Blutkörperchen zu binden, aber nicht so nah, dass der Prozess des Rostens ausgelöst würde. Die Quellen, aus denen Giulia Enders diese und andere wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen hat, führt sie am Ende des Buchs auf.
Insgesamt zeigt Giulia Enders auf eindrückliche Weise, wie großartig unsere Organe Tag für Tag als hochkomplexes System funktionieren, ohne dass wir bewusst etwas dafür tun müssten. Sie weckt Begeisterung für und Vertrauen in unseren Organismus und fordert die Lesenden dazu auf, ihren Körper wirklich zu spüren. Dabei weitet sie den Blick immer wieder auch über die Körperfunktionen hinaus und wünscht sich eine Gesellschaft, die sich weniger im Außen und der digitalen Welt verliert, sondern viel stärker das Fühlen und den Blick nach innen wagt.
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