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»Piraten«: Piratenträume, Piratenromantik

Was die Piraten des 18. Jahrhunderts auf Madagaskar zur europäischen Aufklärung beigetragen haben (könnten), erklärt dieses Buch.
Piraten attackieren ein englisches Segelschiff, Gemälde aus der Schule von Willem van de Velde dem Jüngeren, um 1700

Wer ein Buch über Piraten in die Hand nimmt, erwartet vieles – aber nicht die These, dass die Piraten Madagaskars Vorläufer oder Impulsgeber der europäischen Aufklärung gewesen sein sollen. Der Klappentext verspricht sogar, dass wir von den frühneuzeitlichen Piraten »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit« lernen können. Das macht neugierig, zumal das Thema »Piraten« zurzeit häufiger in den Medien zu finden ist.

Das neue Buch des Anthropologen David Graeber ist in diesem Zusammenhang ein überraschendes Buch, das einen interessanten und spannenden Einblick in die Geschichte Madagaskars im 18. Jahrhundert gibt – und je mehr man sich in diese Geschichte einfindet, umso fremder und unbekannter wird sie.

Man begegnet fremden Gesellschaften und Kulturen, die durch komplexe Immigrationsgeschichten geprägt sind und in denen indigene, afrikanische, arabische, asiatische und nicht zuletzt europäische Einflüsse ihre Spuren hinterlassen haben.

Die europäischen Einflüsse hatten eine besondere Note: Madagaskar war ein wichtiger Stützpunkt für die Seeräuber des Indischen Ozeans und eine Insel, auf der man sich als Pirat zur Ruhe setzen konnte. Die madagassischen Nachkommen dieser Piraten leben heute noch als eigenständige Bevölkerungsgruppe auf Madagaskar.

In Graebers Buch geht es vor allem um die Geschichte, wie die Gesellschaft der Piraten und die ansässige Bevölkerung miteinander agiert haben. Dementsprechend ist das Buch in drei große Teile gegliedert. Im ersten Teil wirft Graeber einen Blick auf die Ansiedlungen der Piraten im Nordosten Madagaskars und stellt einige ihrer Anführer vor, im zweiten Teil wechselt die Sichtweise, und die Ankunft der Piraten wird aus der madagassischen Sicht geschildert. Im dritten und letzten Teil folgt die Synthese unter dem Titel »Piraten-Aufklärung«.

Die Piraten des 18. Jahrhunderts lebten in einer brutalen Welt. Gerade die Seeräuberei war per definitionem mit Gewalt verbunden. Für die damalige Zeit war dies nichts Ungewöhnliches. Auffallend waren hingegen die demokratischen Strukturen, die sich unter den Besatzungen der Piratenschiffe etablierten: Der Kapitän wurde gewählt, und er konnte auch wieder abgewählt werden, er hatte keine Privilegien, und seine Kommandogewalt galt hauptsächlich für die Gefechte selbst. Auf den Schiffen der Piraten hatte sich demnach eine eher demokratische Struktur entwickelt, die sich stark von der strengen Hierarchie der nationalen Marinen und Handelsflotten unterschied.

Die Ansiedlungen der Piraten auf Madagaskar behielten das demokratische und egalitäre Gesellschaftmodell, das sie von Bord gewöhnt waren, bei. Verstärkt wurde diese Lebensform durch die Heirat mit den madagassischen Frauen. Für sie war die Verbindung mit den Piraten auf der einen Seite ein Statuswechsel, der ihnen mehr Macht einbrachte. Auf der anderen Seite wurden die Neuankömmlinge durch ihre Frauen in die komplizierte Lebenswelt Madagaskars eingeführt, deren Kultur ebenfalls durch Diskussion und Debatte geprägt war. So trat eine gegenseitige Verstärkung der beiden auf Konsens basierenden Lebenswelten ein.

An dieser Stelle wird es nun für den Leser ein wenig unübersichtlich, denn ein großer Teil des Buches besteht aus der Regional- und Lokalgeschichte der großen Insel. Der Leser erfährt viel über die verschiedenen Gesellschaften, über Rituale, Bräuche und politische Gegebenheiten. Es ist eine interessante Geschichte, in der schillernde Figuren wie König Ratsimilaho auftauchen, dessen Vater ein englischer Pirat und dessen Mutter die Tochter eines Oberhaupts des bedeutenden Zafindramisoa-Clans war (eines Clans, der auch heute noch auf der Insel existiert).

Allerdings hat man den Eindruck, dass die vielen Details es schwierig machen, den inneren Zusammenhang des Buches zu erfassen. Dies gilt auch für die zentrale These des Buches, dass das Denken der Aufklärung mit den Werten wie Freiheit und Demokratie in den »anarchistischen« Gesellschaften im Umfeld Madagaskars entstanden sein soll. Analoge Entwicklungen von Ideen begründen nicht zwangsläufig eine voneinander abhängige Entwicklung, und leider fehlen dafür belastbare historische Zeugnisse.

Ob die Piraten Madagaskars tatsächlich einen kleinen Funken zur europäischen Aufklärung beigetragen haben, bleibt eine Mutmaßung. Es ist ein spannendes Gedankenspiel, vielleicht gewürzt mit einer Prise Piratenromantik. Aber das macht Geschichte auch spannend.

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