»Plausibel, logisch, falsch«: Wenn Logik in die Irre führt
Wenn dem Straßennetz einer Stadt eine neue, schnell befahrbare Entlastungsstrecke hinzugefügt wird, kommen die Autos in der ganzen Stadt schneller zum Ziel, weil sie weniger im Stau stehen. Das klingt plausibel – schließlich wurde die neue Straße ja zu diesem Zweck gebaut. Aber es ist falsch – zumindest in manchen Fällen. Dass das Streben jedes Einzelnen nach möglichst kurzer Fahrzeit zu längeren Fahrzeiten für alle Beteiligten führt, ist das berüchtigte Braess-Paradoxon. Was zunächst der Bochumer Mathematiker Dietrich Braess theoretisch entwickelt hatte, ist inzwischen für zahlreiche Verkehrssituationen empirisch bestätigt worden. Aber deshalb will es einem noch lange nicht in den Kopf.
Peter Gritzmann, emeritierter Mathematikprofessor aus München, wendet denn auch zehn Seiten seines Buchs auf, um uns dieses Paradoxon zu erklären: mit einer Mischung aus erfundenen und realen Beispielen, im Dialog zwischen fiktiven Personen und mit allerlei erläuternden Zeichnungen. Demselben Muster folgen die weiteren 23 Kurzgeschichten des Buchs, die unabhängig voneinander lesbar sind.
So ergibt sich eine ziemlich umfassende Sammlung von Sachverhalten, über die man ein klares Bild zu haben glaubt – bis einen die mathematische Analyse eines Besseren belehrt. Ein Test, der nur in einem Prozent aller Fälle ein falsch positives Ergebnis liefert, versetzt weitaus mehr Menschen in Angst und Schrecken, als wirklich unter der Krankheit leiden, die der Test erkennen soll – eben weil die Krankheit sehr selten ist. Eine Firma kann wahrheitsgemäß behaupten, sie habe für jede Klasse ihrer Waren die Durchschnittspreise gesenkt – nachdem sie einfach einen Artikel aus einer niedrigeren in eine höhere Klasse einsortiert hat. Die Anzahl der nicht kommerziellen Weltraumstarts weltweit und die der Soziologie-Promotionen in den USA zeigen, geeignet skaliert in dasselbe Diagramm eingetragen, eine verblüffende Übereinstimmung. Dafür eine Erklärung zu finden, ist noch weitaus schwieriger als für die bekanntere Korrelation zwischen der Häufigkeit von Klapperstörchen und der Geburtenrate.
Fallstricke und Paradoxien
Unter den Geschichten dieses Buchs sind auch Klassiker wie das berüchtigte Gefangenendilemma, das Simpson-Paradoxon oder das Arrow-Paradoxon über die Wahlsysteme. Nachdem jeder einzelne Wähler die zur Wahl stehenden Kandidaten in eine Rangfolge gebracht hat, soll ein Algorithmus (ein »Wahlsystem«) den Gesamtsieger bestimmen. Das Problem: Unter diesen Voraussetzungen lässt sich kein Algorithmus definieren, der drei absolut unerlässlich erscheinende Bedingungen erfüllt und ein plausibles Wahlergebnis hervorbringt. Schlimmer noch: Unter gewissen, keineswegs exotischen Umständen findet sich zu jedem von mehreren Kandidaten ein allgemein akzeptiertes Wahlsystem, das genau diesen Kandidaten zum Sieger erklärt. Das heißt: Wer die Möglichkeit hat, über das Wahlverfahren zu entscheiden, kann dadurch das Ergebnis in seinem Sinn beeinflussen.
In diesem Zusammenhang kommt Gritzmann auf ein praktisches Problem der Demokratie zu sprechen, bei dem es mathematisch nichts zu modellieren gibt: Wer ist das Wahlvolk, das über ein konkretes Vorhaben zu befinden hat? Der Autor erläutert das am Beispiel der jahrelangen Auseinandersetzung um die dritte Start- und Landebahn des Münchener Flughafens. Sollen die Bewohner der Gemeinden in den Landkreisen Freising und Erding das Sagen haben, auf deren Gebiet der Flughafen liegt? Oder die Münchener, die immerhin ein Interesse an den verbesserten Reisemöglichkeiten haben könnten? Oder gleich der Freistaat Bayern oder gar die Bundesrepublik Deutschland, die neben der Stadt München Gesellschafter der Flughafen-GmbH sind? Das Problem stellt sich in gleicher Weise »für Windparks, Stromtrassen oder jedwede andere Einrichtung …, die auf ihre Nachbarschaft invasiv wirkt, in mittlerem Abstand Vorteile verspricht und Personen in größerem Abstand weitgehend egal ist«.
Am Ende einer langen Aufzählung von Irrwegen, die der gesunde Menschenverstand gehen kann, zieht Gritzmann ein ernüchterndes Fazit. »Ist es … einfach, den logischen Fallstricken und Paradoxien zu entgehen? Nein, es ist überhaupt nicht einfach und bei den Paradoxien sogar unmöglich.« Aber wie bei Krankheiten könne man so etwas wie eine Immunantwort dagegen entwickeln. In diesem Sinn ist das vorliegende Buch als Impfstoff nachdrücklich zu empfehlen.
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