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Deutsche Politik nach Corona

Die Covid-19-Pandemie hat Deutschland in eine schwere Krise gestürzt. Fachleute aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Verbänden schlagen unterschiedliche Maßnahmen vor.

Nur die wenigsten Menschen haben Anfang 2020 das Ausmaß der Krise geahnt: Der Ausbruch eines neuen Coronavirus in China Ende 2019 hat zu einer weltweiten Pandemie mit über 207 Millionen Infizierten und über 4,3 Millionen mit oder an Covid-19 Verstorbenen (JHU, Juli 2021) geführt. Auch in Deutschland sind die Folgen enorm. Bis Mitte Juli 2021 infizierten sich 3,8 Millionen Menschen, über 91 000 starben. Der Binnenkonsum brach 2020 ein, die Arbeitslosigkeit stieg stark an. Zwar erholt sich die Konjunktur allmählich, doch viele kleine und mittlere Betriebe vieler Wirtschaftsbereiche sind existenzgefährdet. Digitalisierung, Klimaneutralität und der demografische Wandel stellen weitere Herausforderungen dar. Welche Maßnahmen sollte man ergreifen, um all das zu meistern? Da alle gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Bereiche betroffen sind, ist ein breiter Konsens wünschenswert.

In »Postcoronomics« veröffentlichen die Herausgeber 60 Diskussionsbeiträge aus Politik, Unternehmen, Universitäten und Verbänden. Es handelt sich um eine Auswahl der bis zum Frühjahr 2021 im »Blog politische Ökonomie« erschienenen Artikel, deren Zahl bis Mitte Juli auf mehr als 140 gewachsen ist. Blogbetreiber ist das Wirtschaftsforum der SPD e. V., dem die Herausgeber angehören. Ihr selbst erklärtes Ziel ist eine öffentliche Diskussion über die Zeit nach Corona.

In sechs Kapiteln befassen sich die Beiträge mit grundlegenden Weichenstellungen, dem Sozialstaat, dem ökologischen Umbau der Wirtschaft, Transformationsaufgaben in Klimapolitik, Digitalisierung und Wohnungsbau, mit Innovationspolitik und wirtschaftlicher Globalisierung. Mit Blick auf die am 26. September 2021 stattfindende Bundestagswahl kommt diesen Fragen nicht nur eine sachliche, sondern auch eine wahlkampfpolitische Bedeutung zu.

Zu den Autoren gehören SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz sowie Altbundeskanzler Gerhard Schröder, ebenso der FDP-Vorsitzende Christian Lindner und die ehemalige Staatsministerin Hildegard Müller (CDU), die aktuell Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie (VDA) ist. Der Beitrag von Sarah Wagenknecht (Die Linke) – ein Auszug aus ihrem Buch »Die Selbstgerechten«, in dem sie für ein neues »Leistungseigentum« plädiert – ist zwar im Blog vorhanden, wurde aber nicht in den Sammelband übernommen.

Allerdings ist die parteipolitische Herkunft der Autorinnen und Autoren keineswegs ausgewogen, da viele durch ihre Tätigkeit mindestens eine Nähe zur Sozialdemokratie oder den Gewerkschaften besitzen. Die Veröffentlichung des Buchs wenige Monate vor der Wahl erscheint dabei genauso wenig zufällig wie der Umstand, dass der Beitrag von SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz als erster und der von Altbundeskanzler Gerhard Schröder als zweiter abgedruckt wurde, was von der Reihenfolge im Blog abweicht.

In diesem Kontext wenig überraschend bewertet Scholz als aktueller Vizekanzler und Finanzminister die politische und wirtschaftliche Krisenbewältigung Deutschlands, an der er selbst mitgewirkt hat, positiv. Angesichts der globalisierten Wirtschaft, der Digitalisierung und des Klimawandels fordert er jedoch eine neue Strategie der Industriepolitik. Einen Abbau des Sozialstaats als Folge der Krise lehnt er ab.

In eigentümlichem Kontrast dazu steht der Beitrag Schröders, der nicht nur die »Agenda 2010« trotz ihrer Härten verteidigt, sondern auch heute wieder Reformmaßnahmen fordert. FDP-Chef Christian Lindner spricht sich zwar für die Verteidigung der sozialen Marktwirtschaft aus. Dazu solle sich der Staat aber auf die öffentliche Daseinsvorsorge, die Schaffung fairer Marktbedingungen und eine Richterrolle zur Verteidigung des freien Wettbewerbs beschränken. Zudem müssten gesellschaftliche Leistungsträger steuerlich entlastet werden.

Als Vertreterin der Automobilindustrie argumentiert die CDU-Politikerin Hildegard Müller, die Industrie habe angesichts 150 verschiedener E-Auto-Modelle bis Ende 2023 ihre Hausaufgaben gemacht. Jetzt sei es an Bund, Ländern und Kommunen, die Infrastruktur für E-Mobilität, aber auch einen Mobilitätsmix verschiedener Verkehrsmittel zu schaffen. Herausgeber Matthias Machnig, ehemals SPD-Wirtschaftsminister in Thüringen, und Patrick Graichen, Direktor des Thinktanks Agora Energiewende, fordern staatliche Investitionen, um wettbewerbsfähige Strompreise, einen Ausgleich bei Mehrkosten klimaneutraler Schlüsseltechnologien sowie Abnahmegarantien für klimaneutrale Produkte bei Bauvorhaben zu schaffen. Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) fordert den Ausbau der Wasserstoffinfrastruktur.

Der SPD-Politiker Andreas Breitner, ehemals Innenminister in Schleswig-Holstein und nun Direktor des Verbands norddeutscher Wohnungsunternehmen e. V., thematisiert Wege aus der Wohnungskrise. Er verwahrt sich gegen die Gleichsetzung der sozialen Wohnungswirtschaft mit Miethaien und Spekulanten. Das SPD-Programm beurteilt er im Bereich Bauen und Wohnen »als das Gegenteil von zukunftsfähig«, vor allem Mietmoratorien seien Investitionskiller.

Zwar leidet die parteipolitische Ausgewogenheit des Buchs durch die Nähe vieler Autoren zur Sozialdemokratie, doch besitzen die Beiträge mit ihren Vorschlägen und durchaus geübter Kritik das Potenzial, eine öffentliche Diskussion anzustoßen. Das zeigt auch die Beteiligung nicht sozialdemokratischer und akademischer Autorinnen und Autoren. Allerdings steht das Buch klar im Zeichen des Wahlkampfs. Dazu verknüpfen die Herausgeber im Vorwort die Suche nach einer »Post-Corona-Agenda« mit der nach einer »Post-Merkel-Agenda«. Dabei sollte man allerdings nicht übersehen, dass die SPD einen Großteil der Regierungszeit Merkels als Regierungspartner mitgestaltet hat. Insofern bewegen sich die Beiträge aktiver SPD-Politiker und Politikerinnen auf dem schmalen Grat zwischen Abgrenzung zur CDU/CSU und der Schärfung des eigenen Parteiprofils.

Das Buch eignet sich für alle, die sich insbesondere mit sozialdemokratisch geprägten Lösungsansätzen auseinandersetzen möchten. Vorkenntnisse zu den einzelnen Themen – auch entlang des bundesdeutschen Parteienspektrums – sind empfehlenswert.

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