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»Putins Krieg«: Der Krieg und die Menschen

Die Journalistin Katrin Eigendorf berichtet über ihre Erlebnisse in den ersten Monaten des Ukraine-Kriegs.
Zivilisten sammeln ihre Habseligkeiten inmitten der Trümmer eines Wohnhauses in Kiew, Ukraine, am 20. März 2022.

Hanna Polonska und ihr Ehemann Anton hatten beschlossen, ihren Wohnort Butscha vor den russischen Truppen zu verlassen. Doch ihr gemeinsames Leben wurde am 4. März 2022 in wenigen Sekunden zerstört, als ihr Auto nur einige Minuten von ihrer Wohnung entfernt von russischen Soldaten beschossen wurde. Zwar konnte Hanna schwer verletzt von ukrainischen Soldaten gerettet werden, sogar ihr kleiner Hund überlebte. Doch ihr Mann starb im Kugelhagel und sie verlor ihren gemeinsamen, ungeborenen Sohn, der vier Monate später auf die Welt gekommen wäre. Der Angriff hatte anscheinend gezielt einem zivilen Fahrzeug gegolten.

Es sind Ereignisse wie diese, die aus dem Krieg in der Ukraine immer wieder berichtet werden. Sie hinterlassen sinnlosen Tod und Zerstörung, Trauer und schwere physische und psychische Wunden, die vielleicht nie mehr verheilen werden. Wie leben die Menschen in dem Staat, in dem sie seit Beginn des russischen Angriffskriegs am 24. Februar 2022 täglich von diesen Ereignissen bedroht und betroffen sind? Welche Auswirkungen hat der Krieg? Diesen Fragen geht Katrin Eigendorf nach, die als Auslandskorrespondentin für das ZDF arbeitet und seit vielen Jahren immer wieder aus der Ukraine berichtet.

Vergleich: Heute und früher

Sie gliedert ihr Buch neben dem Vorwort in zehn Kapitel, in denen sie ihre Eindrücke von verschiedenen Orten beschreibt, an die sie ihre Arbeit als Fernsehreporterin in den ersten Kriegsmonaten geführt hat: von Winnyzia unter anderem über Odessa, Butscha und Kiew nach Dnipro. Dabei verknüpft sie ihre aktuellen Eindrücke immer wieder mit Einschüben aus ihrem Tagebuch, das sie 2014 führte – zur Zeit der völkerrechtswidrigen Krim-Annexion durch Russland. Eigendorf zeigt Schicksale wie das der jungen Lehrerin Hanna Polonska, die inzwischen auch in Deutschland eine gewisse Bekanntheit erlangt hat, oder der 90-jährigen Jelisaweta, die mit ihrer Enkeltochter aus dem umkämpften Mariupol in das westukrainische Lwiw geflohen war, um über Polen nach Israel auszureisen. Nur einen Tag nachdem Eigendorf das Interview mit ihr geführt hatte, starb sie in einem polnischen Krankenhaus. Wie sehr der Krieg die Jüngeren prägt, deren Kindheit am 24. Februar 2022 mit einem Schlag endete, zeigt sie an den Teenagern Diana, Bohdan und Andrij. In der Freizeit spielen sie mit einem Plastikgewehr, stellen einen der vielen über das Land verteilten Checkpoints nach und kontrollieren vorbeifahrende Autos. Die Autorin zeigt das Leid, die Traumata, aber auch den Zusammenhalt der Menschen.

Neben dem Schicksal der ukrainischen Einwohner, von denen inzwischen 7,5 Millionen innerhalb und 5,5 Millionen außerhalb des Landes auf der Flucht sind, beschäftigen sie grundlegende Fragen der internationalen Politik: etwa danach, welche Werte und Grundsätze tatsächlich international gültig sind; ob sich totalitäre Regime über Demokratie, Freiheit, Menschenrechte und Frieden hinwegsetzen können; und ob solche Regime auch in Europa wieder Völker unterwerfen können. Sie versucht nicht, diese Fragen abschließend zu beantworten. Doch sie liefert mit ihrem Buch ein erschreckendes und eindrückliches Bild davon, wie das Leben aussehen kann, wenn Diktaturen Werte, Freiheit und Frieden missachten. Daher kommt sie zu dem Schluss, dass der Kampf der Ukraine auch ein Kampf für unsere europäische Freiheit ist.

Die Autorin beabsichtigt keine historische Aufarbeitung der Kriegsursachen, sondern schildert persönliche Eindrücke und Reflexionen. Doch sie argumentiert, dass viele Entwicklungen der russischen Politik unter Wladimir Putin zwar schon seit Jahren ersichtlich waren, aber offensichtlich nicht als Warnsignal ernst genommen wurden. Als Beleg für sein rückwärts gewandtes Denken führt sie Putins Aussage von 2005 an, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion »die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts« gewesen sei. Schon 2007 sei durch seine Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz die Konfliktstellung zum Westen deutlich geworden und aus der neuen russischen Militärdoktrin von 2010 die Strategie der hybriden Kriegführung. Zwar ist ihre Kritik berechtigt, aber stark einseitig. Denn westliche Fehler, die zu dieser verheerenden Konfliktsituation ebenso beigetragen haben, kommen in ihrer Darstellung zu kurz.

Eigendorf verurteilt klar das russische Vorgehen und die Rechtfertigungen der Kreml-Propaganda für den Angriff. Den angeblichen Genozid an Russen bezeichnet sie genauso als Lüge wie die der Ukraine vorgeworfene Diskriminierung russischsprachiger Bevölkerungsteile. Denn neben der ukrainischen Amtssprache ist auch das Russische weit verbreitet. Sie hebt hervor, dass vielmehr erst seit Kriegsbeginn eine Distanz zur russischen Sprache bestehe. Die in Butscha, Irpin und Borodjanka unter russischer Besatzung offenbar begangenen Gräuel benennt sie klar als »Kriegsverbrechen« und Putins Krieg insgesamt als »Völkermord«. Diese Bewertungen erscheinen angesichts ihrer Eindrücke und Gespräche mit den Menschen nachvollziehbar, doch sie sind natürlich subjektiv geprägt. Wenn dieser fürchterliche Krieg beendet sein wird, ist es vor allem die Aufgabe von Juristen, über die Verbrechen zu urteilen.

Eigendorfs Buch eignet sich für historisch und politisch interessierte Leserinnen und Leser, die mehr über die Ereignisse und das Leben vor Ort in den ersten Monaten des Ukraine-Kriegs erfahren möchten. Da die Autorin jedoch eine sehr subjektive Darstellungsweise gewählt hat und die historischen sowie politischen Zusammenhänge nicht vertieft aufarbeitet, sind Kenntnisse der russischen und ukrainischen Geschichte sowie Politik empfehlenswert. Dazu finden Leserinnen und Leser als Hilfestellung am Ende des Buchs eine Liste mit hilfreicher Lektüre zur weiteren Beschäftigung.

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