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»Putins Netz«: Der Kalte Krieg geht weiter

Die investigative Recherche zeigt ein Netzwerk, das die russische Politik, Wirtschaft und Justiz durchdrungen hat und den Westen destabilisieren will.
Vladimir Putin

Der Zusammenbruch der Sowjetunion wirkt bis heute nach. Wladimir Putin erlebte ihn als KGB-Offizier im Dresden der damaligen DDR und bezeichnet ihn heute als die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Völlig unvorbereitet traf es den KGB allerdings nicht. Denn Teile des sowjetischen Geheimdienstes haben ein Netz aus Agenten, Unternehmern und organisierter Kriminalität aufgebaut, die den Kampf gegen den Westen weiterführen.

Zu diesem Ergebnis kommt die britische Investigativjournalistin und ehemalige Moskau-Korrespondentin der »Financial Times«, Catherine Belton, aufgrund ihrer Recherchen. In ihrem Buch zeichnet sie das Netz detailliert nach. Ihre Darstellung beginnt lange vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion in der Zeit Juri Andropows (1914–1984). Er war bis 1982 Chef des KGB und von 1983 bis zu seinem Tod Staatschef. Die Darstellung endet mit frühen russischen Kontakten des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump, mit den Einflussversuchen auf seine Präsidentschaftswahl 2016 sowie der russischen Unterstützung der Brexit-Kampagne zur Destabilisierung der EU.

Die Autorin berichtet, dass sich die Führungsriege des KGB unter Andropow gespalten hatte: in eine »konservative« Fraktion, die sich jedem Wandel verschloss, und in »progressive« Befürworter der Marktwirtschaft, die in ihr ein Instrument sahen, um im Konkurrenzkampf mit dem Westen zu bestehen. Die »progressive« Fraktion baute ein Agentennetz sowie Kontakte zu kriminellen Banden auf, verkaufte russische Antiquitäten und Rohstoffe auf dem Schwarzmarkt, häufte Reichtümer an und unterhielt Kontakte zu russischen Exilanten im westlichen Ausland. Nach dem Ende der Sowjetunion war Russlands Übergang zur Marktwirtschaft mit großen wirtschaftlichen und sozialen Härten verbunden. In dieser Umbruchzeit gelang es Oligarchen, nicht selten mit KGB-Kontakten, sich extrem zu bereichern.

Putins Rolle in Dresden ist bis heute nicht aufgeklärt. Er selbst überstand den Zusammenbruch der Autorin zufolge, indem er scheinbar die Seiten wechselte. Er arbeitete sich als stellvertretender Bürgermeister von St. Petersburg unter Anatoli Sobtschak (1937–2000) hoch, der später unter nicht zweifelsfrei geklärten Umständen starb. Als der in die Kritik geratene russische Präsident Boris Jelzin (1931–2007) einen Nachfolger für sich suchte, wurde Putin schließlich als landesweit noch relativ unbekannter Politiker 1999 zum Ministerpräsidenten und 2000 zum Staatspräsidenten aufgebaut. Diesen Aufstieg hatte er den mächtigen Seilschaften hinter den Kulissen des Kreml zu verdanken. Als eigene Machtbasis nutzte und nutzt er dieses von ehemaligen Geheimdienstlern durchsetzte Netzwerk, das im In- und Ausland weiterhin wirtschaftlich aktiv war.

Nach Belton entstand daraus ein »deep state«, der bis heute die russische Wirtschaft sowie die Justiz kontrolliert und in dem staatliche Stellen als Instrument zur Selbstbereicherung dienen. Doch seine »Tentakel« würden »sich bis tief in die Institutionen des Westens erstrecken«. Schwarzgeld sei auf westliche Konten verschoben, an der Londoner Börse investiert oder in Spielcasinos reingewaschen worden. Belton berichtet, dass dies auch in den Spielcasinos von Donald Trump geschehen sein dürfte und dass dieser in den 1990er Jahren wohl durch russische Gelder vor der Pleite bewahrt worden sei. Putin selbst ist heute das Zentrum dieses Netzes, das ihn zu seinem Schutz jedoch ebenfalls benötigt.

Belton argumentiert, dass der Kalte Krieg nach dem sowjetischen Zusammenbruch im Westen offenbar schnell vergessen wurde, aber im Grunde nicht beendet ist. Denn die unter Putin agierenden Seilschaften streben nicht nur nach persönlicher Macht und Reichtum, sondern versuchen auch, weiterhin den Westen zu destabilisieren. Dazu bedienen sie sich inzwischen der kapitalistischen Marktwirtschaft, Geldgier und persönlichen Geltungsbedürfnisses.

Belton legt mit ihrem Buch eine fundiert recherchierte und detailreiche Arbeit vor, die jedoch nicht alles aufklären kann. Manches bleibt aufgrund der schwierigen Quellenlage im Dunkeln – etwa Putins genaue Tätigkeit in Dresden. Oder es ist Teil laufender juristischer Auseinandersetzungen – etwa die Geldströme in den Unternehmen Donald Trumps. Doch gerade der Detailreichtum des Buches und das Auftreten unzähliger Personen – Politiker, Geheimdienstler, Oligarchen usw. – machen es zu einer schwierigen Lektüre. Ein wenig wird der Zugang durch eine an den Beginn gestellte Liste mit den »Dramatis Personae« erleichtert. Doch ist der Detailreichtum sowohl den akribischen Recherchen als auch dem enormen Umfang des beschriebenen Netzwerkes geschuldet.

Das Buch eignet sich für zeithistorisch sowie an der jüngsten russischen Politik interessierte Leserinnen und Leser. Historische und politische Vorkenntnisse sind notwendig.

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