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Buchkritik zu »Risiken der Technik«

Während der Kernenergiedebatte sind wir bis zum Überdruss von väterlichen Figuren traktiert worden, die nicht nur die Wahrscheinlichkeit eines kerntechnischen Unfalls mit aberwitzig vielen Nullen hinter dem Komma bezifferten, sondern uns auch vermittelten, wir hätten sowieso keine Ahnung von der Sache und sollten die Sorge um die Sicherheit getrost den Experten überlassen.Ich gestehe, der Tonfall des vorliegenden Buches hat üble Erinnerungen an diese Besserwisser in mir erweckt. Zu Unrecht! Rolf Krieg weiß es wirklich besser, denn er war langjähriger Leiter der Abteilung für Mechanik im Institut für Reaktorsicherheit des Forschungszentrums Karlsruhe und zeitweilig auch Vorsitzender der Reaktorsicherheitskommission. Mit 62 Jahren ist er über jeden Verdacht erhaben, er wolle uns seiner Karriere zuliebe einen Bären aufbinden. Ohne Zweifel kann er die Risiken der Kerntechnik besser einschätzen als die meisten Zeitgenossen, und ohne Zweifel ist es für seinesgleichen schwer erträglich, wenn nicht ihr Expertenurteil, sondern der Widerwille der ahnungslosen Bevölkerungsmehrheit den Ausschlag gibt bei der Entscheidung für den Ausstieg aus der Kernenergie.In seinem ehrenwerten Bemühen, über den Dingen zu stehen, vertritt Krieg diese Position nicht selbst, sondern legt sie Adam in den Mund, einem von drei Partnern eines fiktiven Gesprächs. Dessen Widerpart Benno zeichnet er ohne den geringsten Versuch der Herabsetzung so, dass ein Kernenergiekritiker sich darin wiederfinden könnte; Lise, die dritte in der Runde, übernimmt die Moderation des Gesprächs und die Synthese der Argumente.In mehreren Gesprächsrunden klärt uns der Autor über die Bedeutung von Wahrscheinlichkeitsberechnungen im Allgemeinen und von Risikoabschätzungen im Besonderen auf, zitiert gängige Fehleinschätzungen wie die beim notorischen Ziegenproblem und präsentiert uns die Erkenntnisse der Soziologen über das Verhalten von Laien: Sie unterschätzen die Risiken des Alltags und überschätzen die Risiken dessen, was sie nicht kennen – aber nur mäßig.Aus dem Straßenverkehr gibt es die Erfahrung des "Risikothermostaten": Die Leute setzen die Vorzüge von Sicherheitsgurt, ABS und Airbag nicht etwa ein, um das Unfallrisiko zu mindern, sondern um schneller zu fahren! Wegen der breiten Erfahrungsbasis – Autofahren ist alltäglich, und Unfälle kommen häufig vor – kommen sie zu einer zuverlässigen Einschätzung des Risikos und stellen ihr Verhalten so ein, dass ein von ihnen als akzeptabel angesehenes Risikoniveau eingehalten wird. Anders ist nicht zu erklären, warum die Einführung von Vorschriften wie Gurt- und Helmpflicht einen so mageren Effekt hatte.In der Kerntechnik liegen die Dinge ganz anders. Ausgerechnet die bislang sehr geringen Unfallzahlen sind es, die uns an einer Abschätzung des Risikos aus Erfahrung hindern. In dieser Situation gilt der allgemeine ethische Grundsatz, dass der Fachmann zurückstecken muss, wenn es ihm nicht gelingt, den Laien zu überzeugen – was eben um so schwieriger ist, je weniger greifbare Erfahrungen vorliegen und je undurchschaubarer die Technik ist. Rolf Krieg versäumt nicht, die Risiken eines Verzichts auf Kernenergie aufzuzeigen: Zwangsläufig müsse sich der Verbrauch konventioneller Brennstoffe erhöhen und damit der Treibhauseffekt verstärken. Aber auch zu dieser Position bringt er immerhin die Gegenargumente.Insgesamt eine gut geschriebene, von ehrlichem Bemühen um Fairness getragene Darstellung des aktuellen Diskussionsstandes zu Sicherheit und Risiko technischer Einrichtungen.Der Autor konnte kaum ahnen, dass sein Werk Ende 2001 besondere Aktualität gewinnen würde. Die Betreiber baden-württembergischer Kernkraftwerke haben offenbar jahrelang systematisch Sicherheitsvorschriften missachtet, und zwar nicht, weil sie alle lebensmüde wären, sondern weil sie sich verhalten haben wie Autofahrer: In der Überzeugung, es besser zu wissen und das Risiko einschätzen zu können, haben sie ihr Verhalten auf ein von ihnen selbst für akzeptabel gehaltenes Risikoniveau eingestellt.Ein solches Verhalten macht nicht nur den Unfallwahrscheinlichkeits-Berechnungen mit ihren vielen Nullen zu Makulatur. Sondern die Betreiber haben sich bei ihrer Risikoeinschätzung auch in trügerischer Gewissheit gewiegt: Bei den bisher geringen Unfallzahlen lassen sich "keine verlässlichen Aussagen zur Häufigkeit und zum Risiko ableiten", sagt sogar Adam, der Technikbegeisterte.Im Lichte dieser Nachrichten liefert das Buch ziemlich handfeste Argumente für einen Atomausstieg – was der Autor schwerlich beabsichtigt hat.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 01/2002

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