»Risse im Fundament«: Jenseits von Wahr und Falsch
»Dieser Satz ist falsch.« »Alle Kreter lügen«, sagt ein Kreter. »Dieser Satz ist wahr, aber nicht beweisbar.« Wenn eine Aussage auf sich selbst Bezug nimmt wie in diesen viel zitierten Beispielen, können die merkwürdigsten Dinge passieren. Vor allem gerät man bei der Beantwortung der Frage, ob ein solcher Satz wahr ist, in unauflösliche Widersprüche. Diese wiederum betreffen nicht nur Sätze der natürlichen Sprache, in der Widersprüche schon wegen der Mehrdeutigkeit vieler Wörter nichts Besonderes sind, sondern auch die strikt formalisierten, von allen Mehrdeutigkeiten freigehaltenen Sprachen der Mathematik. Mit dem Effekt, dass sie alle unvollständig sind: Man kann in jeder dieser Sprachen Aussagen formulieren, die in ihr selbst unbeweisbar sind, oder schlimmer noch, über deren Wahrheit man gar keine Entscheidung treffen kann. Das ist die Aussage des berühmten Unvollständigkeitssatzes von Kurt Gödel (1906–1978).
In seinem Kultbuch »Gödel, Escher, Bach« hat Douglas R. Hofstadter das Thema Selbstbezüglichkeit in immer wieder neuen Variationen durchgespielt. Auch der Autor des vorliegenden Buchs bekennt, dass ihn Gödels Unvollständigkeitssatz seit der Lektüre von Hofstadters Buch nicht mehr losgelassen hat. Anders als Hofstadter konzentriert sich Jörg Resag allerdings ganz auf die abstrakte Seite: auf die Mathematik als ein Mittel zur Produktion ewiger Wahrheiten. Eine solche Perspektive ist abgehoben von jeder äußeren Realität mit all ihren Ungewissheiten, mehr noch: Sie ist abgehoben vom gewöhnlichen Denken. Es kommt nicht darauf an, ob mir eine Schlussfolgerung einleuchtet, sondern darauf, dass sie aus einer quasi mechanischen Anwendung festgelegter Logikregeln besteht.
Wovon spricht eine solche Mathematik, nachdem sie nicht einmal die natürlichen Zahlen – ihrem Namen zum Trotz – aus der Natur herleiten kann? Von Mengen und nichts anderem; das ist der Konsens, der sich seit der ersten konsequenten Verwendung des Begriffs durch Georg Cantor (1845–1918) mittlerweile etabliert hat. Und was sind die Elemente dieser Mengen? Mengen – was sonst.
Die einzige Menge, deren Existenz man fordern muss, ist die leere Menge. Darüber hinaus muss man nur noch einige harmlos klingende Bauanleitungen für Mengen festlegen, zum Beispiel: »Es gibt die leere Menge«, oder »Zwei Mengen kann man zu einer neuen vereinigen«. Und schon kann man die natürlichen Zahlen definieren, indem man gewisse Mengen als »0«, »1«, »2« und so weiter bezeichnet. Durch weitere Mengenoperationen gewinnt man die negativen, die rationalen, die reellen und die komplexen Zahlen, geometrische Objekte und alles, was die Mathematik sonst noch braucht.
Schwindelerregende Unendlichkeiten
Eine dieser Bauanleitungen ist allerdings weit weniger harmlos, als sie aussieht: »Zu jeder Menge kann man die Menge ihrer Teilmengen (Potenzmenge) bilden« . Unter ihrer Anwendung entsteht aus einer unendlichen Menge eine noch viel »unendlichere« – ja, das kann man mathematisch exakt ausdrücken. Da türmen sich unter wiederholter Anwendung immer höhere, schwindelerregende Unendlichkeiten, und die erdrückende Mehrheit ihrer Elemente ist »dunkel«, das heißt auf keine Weise durch endlich viele Zeichen ausdrückbar. Schlimmer noch: Es gibt so hässliche Objekte wie die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten. Bei ihr führt nämlich die Frage, ob sie sich selbst als Element enthält, in einen unauflöslichen Widerspruch.
Also muss man solche Mengen aus dem abstrakten Universum aussperren; aber wie gestaltet man diese Sperre? Zu restriktiv, und man kann gewisse Aussagen gar nicht mehr treffen; zu liberal, und man gerät in Widersprüche. Am Ende arbeitet man mit Universen verschiedener Größe. Ein kleines Universum hat begrenzte Ausdrucksmöglichkeiten, kann insbesondere »die eigene Größe nicht sehen«. Das gelingt erst in einem umfassenderen Universum. Die Aussage »Dieser Satz ist nicht beweisbar« kann im kleinen Universum getroffen werden. Dass er auch wahr ist, sieht man erst im großen. Damit wird aus diesem zentralen Unvollständigkeitsbeispiel der letzte Rest von gewöhnlichem Denken eliminiert.
Um zu diesem Ergebnis – und einer Fülle weiterer Aussagen aus der mathematischen Grundlagenforschung – zu kommen, nimmt Jörg Resag einen langen Anlauf. Das erste von vier großen Kapiteln verfolgt, wie sich die Zunft im Lauf der Zeit genötigt sah, sich mit immer neuen Arten von Zahlen anzufreunden: negativen, irrationalen, komplexen und infinitesimalen. Das zweite erzählt von den Bemühungen, die Mathematik auf eine sichere, formale und von der Anschauung unabhängige Grundlage zu stellen – und deren Scheitern.
Die Gründe dafür, Gödels Unvollständigkeitssätze und alles, was dazugehört, sind Thema des dritten Kapitels. Im vierten schließlich geht es um die aktuellen Weiterentwicklungen: Grenzen der Berechenbarkeit, die Unentscheidbarkeit des Halteproblems und die verwirrende Erkenntnis, dass es weit draußen in den großen Universen eine Beliebigkeit gibt. Die berüchtigte Kontinuumshypothese ist ebenso wie ihr Gegenteil widerspruchsfrei mit dem klassischen Axiomensystem für die natürlichen Zahlen vereinbar. Für welche Annahme man sich entscheidet, ist keine Frage von Richtig oder Falsch, sondern im Wesentlichen Geschmackssache.
Das ist alles harte Kost. Aber der Physiker Jörg Resag, der sich mit einem inhaltsreichen Webauftritt und etlichen Büchern einen Namen gemacht hat, führt einen mit sicherer Hand durch das schwierige Gelände. Der lockere Gesprächsstil verbirgt die Schwierigkeiten des Stoffs so meisterhaft, dass der Autor selbst empfiehlt, sich einige Passagen in aller Ruhe und mehrfach zu Gemüte zu führen. Formeln sind selten und in jedem Fall hilfreich. Ein überaus eindrucksvolles Werk.
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