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»Ruinen der Wahrheit«: Die Wahrheit und die Staubsauger

Rob Wijnberg blickt optimistisch auf die Wahrheit und den Fortschritt. Der Pinsel, mit dem er ihre Geschichte zeichnet, hat aber einen eher groben Strich.

Nicht auf die Wahrheit kommt es an, sondern auf den Verkaufserfolg – dieser Eindruck entsteht zumindest mit Blick auf den deutschen Buchtitel: »Ruinen der Wahrheit. Eine kurze Geschichte unserer Zeit«. Denn mit dem niederländischen Originaltitel »Voor ieder wat waars. Hoe waarheid ons veredeelt en ons wee kann samenbrengen« hat er nichts gemein, bedeutet der doch in etwa: »Für jeden etwas Wahres. Wie die Wahrheit uns veredelt und uns zusammenbringen kann.« Nach der Lektüre des Buchs muss man sogar feststellen: Der deutsche Titel scheint den Intentionen des niederländischen Journalisten Rob Wijnberg zu widersprechen.

»Ich möchte mit diesem Buch aufzeigen, dass sich der Mensch im Laufe der Jahrhunderte die Wahrheit immer stärker zu eigen gemacht hat.« Dem Autor geht es darum, engagiert einen anderen Blick auf unsere Zeit zu werfen und seinen Lesern eine positive Sicht auf die Gegenwart und Zukunft Europas zu ermöglichen. Dafür nimmt er einen sehr langen Anlauf und zeichnet mit dickem Pinselstrich die Geschichte des Denkens von der Antike bis in die heutige Zeit. Dass er dabei sehr viele Details weglässt, ist nur allzu verständlich. Dass er aber im Brustton der Überzeugung und frei von jeglichem Selbstzweifel manches sehr vergröbert und überzeichnet, muss angemerkt werden. Somit gerät ihm einiges aus dem Blick und anderes arg daneben.

Eine solche Lücke ist etwa im Zusammenhang mit »Wahrheit« zu beklagen. Der Begriff gehört zu den zentralen Problemen von Philosophie und Logik. Er ist mit der Frage der Beweis- und Messbarkeit verbunden, oft auch mit der Korrespondenz zu Tatsachen, der Formulierung von Sachverhalten und der Auffassung von Wirklichkeit. Der bedeutendste antike Philosoph, der sich der Frage nach der Wahrheit gewidmet hat, war Aristoteles. Seine Korrespondenztheorie der Wahrheit wird bis heute diskutiert.

Aristoteles und die philosophischen Definitionen von Wahrheit spielen aber für Wijnberg keine Rolle. Stattdessen startet seine Geschichte mit einem Vergleich zwischen Liebe und Wahrheit: Beide verbinde eine »magnetische Kraft«, die uns anziehe, Unterschiede überbrücke und uns genauso wieder trennen könne: »Denn wie die Liebe kann die Wahrheit auch verloren gehen.« Ausgehend von dieser Analogie erklärt er die Wahrheit konsequent zu einem »gesellschaftliche[n] Gemütszustand«.

Diesen verfolgt er von der Antike bis in die Gegenwart in Siebenmeilenstiefeln: Mit Platon beginnt für ihn die Zeit der Wahrheit als »Erlösung«; sie dominiere von circa 400 v. Chr. bis 1600 n. Chr., Wahrheit werde hier als eine verkündete Offenbarung außerhalb menschlicher Reichweite aufgefasst. Mit Descartes und Kant setze die Aufklärung und damit die Moderne ein; Wahrheit habe nun »Fortschritt« zum Ziel, der Mensch finde und erarbeite sie wissenschaftlich.

Den nächsten Bruch erkennt Wijnberg in der Postmoderne ab 1950. Sie wolle die Menschen befreien, Wahrheit werde in ihr zur Konstruktion und so zu etwas Subjektivem. Aber nur 30 Jahre später, ab 1980, verkomme in der »postmodernen Konsumzeit« die Wahrheit zur reinen »Bedürfnisbefriedigung«. Es kann, so der Autor, nur besser werden: Er setzt seine Hoffnung auf die Zukunft, in der die Wahrheit den »kollektiven Fortschritt« begründen werde.

Dieser kurzen Skizze folgend, könnte man Wijnberg ein eschatologisches Verhältnis zur Wahrheit unterstellen. Seine beiden Schlusskapitel sind zwar mit einer »Hoffnung« verbunden – aber eben der Hoffnung, dass die Gegenwart den Fortschritt mit einer anderen Erzählung begründen könne. Denn Schuld am heute besonders im Westen herrschenden Pessimismus seien nicht zuletzt die Medien, die der Journalist Wijnberg deutlich kritisiert: »Misstrauen ist vor allem ein Medienproblem.« Und Misstrauen säten die Medien täglich, weil gerade Polarisierung ihr Erfolgsmodell sei. Dass sie dabei die Menschen zugleich in die Kontroverse reißen, interessiere sie nicht, solange die Zahl der Klicks stimme. »Wir sind nicht weniger einig, sondern wir sehen weniger Einigkeit.«

Damit setzt Wijnberg einen Kontrapunkt zur gegenwärtigen Medienlogik und singt ein Loblied auf Europa, Bürokratie und kollektiven Fortschritt et cetera. Was er dabei im Auge hat, zeigt er an vielen Beispielen: »Allein die europäische Richtlinie, die festlegt, wie viel Energie ein Staubsauger verbrauchen darf, spart weltweit so viel CO₂-Emissionen ein wie ein Viertel der niederländischen Klimapolitik.« Der Fortschritt bestehe aus »staubtrockenen Vorschriften«, wie etwa dem Brüsseler Glühbirnenverbot, das weltweit zur Norm geworden sei und Licht zu 80 Prozent energieeffizienter und 25-mal nachhaltiger gemacht habe. Aber darüber berichte niemand, so der Autor.

Die Fortschrittsgeschichte Wijnbergs ist auch eng mit dem Begriff »Nachhaltigkeit« verbunden. Sie gehöre zu den »wirkungsvollsten Maßnahmen zur Unterminierung undemokratischer Regime«, weil autoritäre Regierungen wie Russland, Iran, Saudi-Arabien und andere auf Förderung von Kohle, Öl und Gas setzten. So sei die »nachhaltige Revolution kein grüner Traum von Ökospinnern […], sondern die Geburtsstunde einer neuen Ära des Fortschritts«. Dann kehrt der Autor am Schluss seiner Argumentation zu ihrem Anfang zurück, wenn er schreibt: »Wahrheit ist das, was sich vermehrt, wenn wir es teilen. So wie Freiheit, Wissen, Vertrauen und Liebe wachsen, wenn man sie einem anderen zuteilwerden lässt.«

Wijnbergs Buch ist, wie man es von einem Journalisten erwarten darf, flüssig geschrieben und leicht zu lesen. Allerdings müssen Leser eine gute Portion Toleranz gegenüber manchem groben Pinselstrich und vielen Überzeichnungen zeigen sowie den nötigen Optimismus mitbringen, um Gewinn aus der Lektüre zu ziehen.

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