»Scham«: Ein Gefühl, das tief blicken lässt
Die Wangen glühen, Schweiß bricht aus, man kann die Blicke der anderen geradezu spüren. Scham kennt jeder, doch niemand redet gerne darüber. Der Journalist Matthias Kreienbrink wirft ein Schlaglicht auf ein Gefühl, mit dem man meist nur im Verborgenen ringt.
In seinem Buch berichtet Matthias Kreienbrink, wie dieses Gefühl sein Leben geprägt hat. Als übergewichtiger Junge musste er in der Schule früh erfahren, was es heißt, sich zu schämen. Unter den Erfahrungen von Ausgrenzung und Mobbing litt sein Selbstbewusstsein, er entwickelte Ängste und wechselte mehrmals die Schule. Erst Jahre später holte er das Abitur nach und absolvierte ein Studium.
Eine »Schambiografie« habe jeder, schreibt Kreienbrink. Auf den etwa 200 Seiten seines Buchs wird deutlich, dass dieses Gefühl in praktisch allen Lebensabschnitten und -bereichen eine wichtige Rolle spielen kann: in der Kindheit, bei Erfahrungen in Bildungseinrichtungen, beim Erleben von Körper und Sexualität, in der Arbeitswelt, bei psychischen Erkrankungen, beim Altern und zuletzt dem Sterben. Wie individuell das Empfinden von Scham und der Umgang damit sein können, zeigen Fallgeschichten wie etwa die des ehemaligen SPD-Generalsekretärs Kevin Kühnert. Kreienbrink beschreibt sie auf einfühlsame Weise und verknüpft die Darstellung von Einzelschicksalen immer wieder mit Analysen gesellschaftlicher Zusammenhänge.
Der Unterschied zwischen »Scham« und »Beschämung«
Zu Beginn des Buchs geht der Autor der Frage nach, was Scham eigentlich ist. Das Stressgefühl fungiere als Signal, dass eine Norm verletzt oder eine Grenze überschritten wurde. Jemand, der sich schämt, sieht sich durch die Augen der anderen. Indem Scham einen Perspektivenwechsel bewirkt, könne sie durchaus produktiv sein, schreibt Kreienbrink. Dies gelte allerdings nicht, wenn Beschämung, zum Beispiel in der Schule, zur Disziplinierung eingesetzt werde. Darüber hinaus könne das Gefühl chronisch werden und zu Stagnation und Rückzug führen. Eine Weiterentwicklung werde dadurch verhindert, vor allem, wenn eine Person absichtlich beschämt werde.
Warum schämen wir uns heute noch, obwohl wir in einer Gesellschaft leben, die scheinbar kaum noch Grenzen kennt? Kreienbrink zeigt im Kapitel »Die neue Macht der Scham«, dass wir uns trotz der vermeintlichen Offenheit in unserer Kommunikation weiterhin schämen. Scham sei jedoch schwerer zu erkennen. So böten die sozialen Medien zwar Raum für intensiven Austausch und die Möglichkeit, sich dabei mit den eigenen »Schwächen« zu zeigen. Aber dadurch vergrößere sich auch die Gefahr, dass Menschen, die sich öffnen, in der digitalen Öffentlichkeit vorgeführt werden.
Die »neuen« Formen der Scham, so schreibt Kreienbrink, betreffen oftmals identitätspolitische Themen oder Fragen der Moral. Die Beschämung werde genutzt, um zu verdeutlichen, dass man selbst auf der richtigen Seite stehe, sich der andere dagegen zu schämen habe. Dies wird in schambehafteten Begrifflichkeiten deutlich, die Kreienbrink in seinem »ABC der Beschämung« aufführt und erläutert. Ob »Boomer«, »Flugscham«, »Gendergaga« oder »Sprachpolizei« – Kreienbrink bringt zugespitzt auf den Punkt, weshalb Pauschalisierungen eine Debatte zum Erliegen bringen und Fronten verhärten.
Scham kann Menschen ausschließen und einsam machen. Wer sich schämt, spricht nicht gerne darüber – was die Gefahr eines Rückzugs noch verschärft. Doch niemand müsse in dieser Zwickmühle verharren, bringt Kreienbrink nahe. Im letzten Kapitel seines Buchs weist er Wege aus einer Scham, die behindert. So regt er dazu an, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen und Widersprüche bei sich selbst und anderen auszuhalten, um das Gefühl von Scham für die eigene Entwicklung zu nutzen und ihr so ihre Macht zu nehmen.
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