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Das Glas halb leer

Ständig negative Nachrichten zu verfolgen, sei für alle Beteiligten kontraproduktiv, meint die Journalistin und Neurowissenschaftlerin Maren Urner.

»Unser Leben ist nichts anderes als das, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten.« Das Zitat des Philosophen William James (1842-1910), Mitbegründer der Psychologie, fasst die Botschaft dieses Buchs in einem Satz zusammen. Mit ihrem humorvollen und auffordernden Werk plädiert die Neurowissenschaftlerin und Journalistin Maren Urner für eine Veränderung unseres Medienkonsums und ein Hinterfragen des Medienbetriebs.

Die Ausrede »Ich weiß es nicht« ist im digitalen Informationszeitalter obsolet geworden. Korrekt müsste es heißen: »Ich hatte keine Lust, nachzuschauen.« Denn die Technik hat uns in die Lage versetzt, ständig erreichbar zu sein und von überall auf nahezu alle Informationen zuzugreifen. Dennoch konsumieren viele Menschen großteils negative Nachrichten, weil gängige Medien ihnen bevorzugt solche präsentieren, wie Urner schreibt.

Die eigene Wächterfunktion untergraben

Das permanente Konsumieren schlechter Neuigkeiten, so die Autorin, mache depressiv und führe zu einem Gefühl der Überforderung und Hilflosigkeit. Auf diese Weise trage der Journalismus kurioserweise dazu bei, seine eigene Wächterfunktion zu untergraben: Indem er bevorzugt Negatives thematisiere, bewege er die Menschen dazu, sich abzuwenden und ihr eigenes Leben schlechter zu bewerten, als es objektiv sei. Die Berichterstattung über einen Terroranschlag zu verfolgen, könne beispielsweise eine intensivere Stressreaktion auslösen, als selbst Zeuge desselben zu sein. Zu diesem Ergebnis kam eine Studie, die das Attentat auf den Boston-Marathon näher untersuchte. Das könne bis hin zu Symptomen gehen, die einer Posttraumatischen Belastungsstörung ähneln.

Aus dieser Abwärtsspirale könnten Nutzer ausbrechen, indem sie ihre Gewohnheiten bewusst beobachten und hinterfragen, wie die Autorin betont. Zunächst sollten sie daran arbeiten, sich nicht ständig vom Smartphone unterbrechen zu lassen. Urner verweist auf Studien, laut denen allein die physische Nähe eines solchen Geräts Stress auslöst. Auch die Medien selbst hätten viele Möglichkeiten. Ihr Ziel sollte sein, objektiv zu berichten, wenngleich es keine vollständige Objektivität gebe. Denn schon die Auswahl der Themen sei ein Stück weit wertend und somit nicht objektiv.

Die Autorin schlägt vor, sich mehr dem »Konstruktiven Journalismus« zuzuwenden. Dieser berichtet nicht nur über das Wer, Was, Wann, Wo und Warum, sondern fragt auch, wie es weitergehen kann, was mögliche Lösungsansätze sind und ob es bereits Lösungen gibt. Als Neurowissenschaftlerin setzt sich Urner mit ihrer Onlinezeitschrift »Perspective Daily« dafür ein, auf der Grundlage des Wissens über unser Gehirn zukunftsorientiert über die Welt zu berichten. Zudem will sie ihre Leser dazu anregen, zu handeln und anstehende Probleme zu lösen. Werden Lösungen diskutiert, statt nur das Problem zu beschreiben, lässt sich ein vollständigeres Bild der Welt zeichnen – davon ist Urner überzeugt.

Einerseits solle Konstruktiver Journalismus validen Langzeitstudien und komplexen Übersichtsarbeiten mehr Aufmerksamkeit schenken als Aufsehen erregenden Einzelexperimenten, meint die Autorin. Andererseits solle er die Komplexität in der Berichterstattung niedrig halten. Leicht verständliche Wörter zu benutzen, vielleicht auch einmal Umgangssprache, gehört laut Urner dazu, denn diese könne das Gehirn schneller verarbeiten. Dabei noch der Realität gerecht zu werden, ist jedoch eine Kunst, die jedes Mal aufs Neue erreicht werden will.

In lesefreundlicher Sprache beschreibt die Neurowissenschaftlerin interessante Forschungsergebnisse und vermittelt komplexe Ergebnisse anhand humorvoller Beispiele. Sie gibt ihren Leser(inne)n zudem einen Einblick in die Redaktion ihrer Onlinezeitschrift, die sie gemeinsam mit Han Langeslag gegründet hat. Die entsprechenden Schilderungen, die mitunter sehr detailliert ausfallen, sollen unter anderem das Konzept des Konstruktiven Journalismus verdeutlichen und mit anderen Formen vergleichen. Negativ fällt allerdings auf, dass die Autorin Werbung in Medien scharf verurteilt, während sie auf der anderen Seite in weiten Teilen ihres Buchs ihre eigene Zeitschrift sehr positiv und zu detailliert beschreibt.

Im Großen und Ganzen ein verständliches und spannendes Werk mit vielen Anregungen für den Alltag, Verweisen auf interessante Studien und einer großen Prise Humor.

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